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Nach einer Weile ging ein Raunen durch die Menge, und alle blickten nach oben. Und da stand er: Irmin hatte den schräg stehenden Felsen erklommen und posierte, mitreißend und bedrohlich zugleich, im Brennpunkt der Aufmerksamkeit seiner Anhänger – und seiner Verbündeten, die nun ebenfalls gezwungen waren, zu ihm aufzuschauen.

Während die Menge zu toben begann und immer wieder seinen Namen schrie, verharrte Irmin regungslos auf dem Felsen und genoss die Verehrung, die ihm stampfend und brüllend entgegengebracht wurde. Klarer als in all den Wochen, seit sie in sein Vorhaben eingeweiht worden war, begriff Fastrada nun, dass er dort oben nichts anderes feierte als sich selbst. Mit einem starken Gefühl von Widerwillen beobachtete sie die Begeisterungsstürme, die sich einem Vulkanausbruch gleich entluden. Ihr wurde klar, dass diese Männer Irmin, ohne nachzudenken, überallhin folgen würden. Noch bevor ihr Cousin das Wort ergriff, wandte Fastrada sich zum Gehen. Während sie tiefer in die wohltuende Kühle der Baumschatten eintauchte, hörte sie undeutlich die ersten Wortfetzen seiner Ansprache.

Die anderen Frauen schienen ihre Abwesenheit gar nicht bemerkt zu haben und ehe sie sich versah, wurde sie einem Karren zugewiesen, auf den ein Balkengestell mit einem gebratenen Ochsen am Spieß montiert war, der über einem auf kleinen Stelzen gelagerten Metallbecken mit glühender Kohle schwebte. Der Wagen wurde von zwei Ochsen gezogen und stand abfahrbereit in einer Kette aus ähnlichen Gefährten, die eigens für diesen Abend konstruiert worden waren. Die Hitze der Kohlebecken schwamm zusammen mit dem unwiderstehlichen Duft von gebratenem Fleisch über den Dorfplatz und stieg in wabernden Schlieren in den vom schwindenden Tageslicht kaum noch erhellten Himmel. Auf ein Kommando setzte sich der Zug in Bewegung, schwenkte in den Wald ein und erreichte nach einem weiten Bogen die Lichtung, von der jetzt wieder das ohrenbetäubende Geschrei zu hören war. Unter dem erwartungsfrohen Jubel der Männer, deren Gesichter vom unsteten Schein unzähliger Feuer und Fackeln erhellt wurden, kamen die Wagen zum Stehen. Die Frauen sprangen auf die Karren, säbelten mit großen Messern dampfende Fleischstücke ab und reichten sie in die andrängende Menge, unter die sich rasch auch immer mehr römische Legionäre mischten. Weiter hinten schöpften andere Frauen mit hölzernen Bechern Wein und Bier aus Fässern.

Fastrada stand unschlüssig neben den Zugochsen und suchte nach einem Messer, um beim Portionieren zu helfen, als aus der Menge plötzlich ein bekanntes Gesicht auftauchte.

Sie traute ihren Augen kaum. Es war der junge Römer aus Castra Lupiana. Sie spürte, wie ihr Herz einen Satz machte. Nicht nur vor Überraschung über den fast unmöglich scheinenden Zufall dieser Begegnung – es war auch, als erfüllte sich in diesem Augenblick eine uneingestandene Hoffnung, die sie nicht recht einzuordnen wusste. Während um sie herum das Stimmengewirr wogte, schien die Zeit kurz stehen zu bleiben.

Er hatte sie im selben Moment gesehen und trat einen Schritt auf sie zu. Es war fast die gleiche Situation wie damals. Und wieder fiel ihr nichts ein, was sie sagen sollte, und wieder war er es, der die Initiative ergriff.

»Werden die Ochsen einzeln abgegeben?«, fragte er in Anspielung auf ihr letztes Gespräch und lächelte.

Seine Stimme wirkte überraschend vertraut. »Nein«, sagte sie. »Wenn ich die einzeln abgeben würde, dann stünde ich morgen noch hier.«

Sein Lächeln wurde breiter. »Das glaube ich kaum«, erwiderte er und blickte zu den Männern, die den gebratenen Ochsen umlagerten. Die Frau auf dem Wagen kam mit dem Anreichen nicht nach und warf einen vorwurfsvollen Blick auf Fastrada, die keine Anstalten machte, ihr zur Hand zu gehen. »Wenn das so weitergeht, ist in einer Stunde nur noch das Gerippe übrig.«

»Wir haben noch mehr«, sagte sie.

Er wies mit einer nickenden Kopfbewegung zu den Zugtieren, die wegen des sofortigen Andrangs der hungrigen Mäuler nicht ausgespannt worden waren. »Ist das nicht etwas makaber?«

»Was?«

»Na, dass sie die Wagen ziehen müssen, auf denen ihre Artgenossen zerstückelt werden.«

Fastrada lachte. So hatte sie die Sache noch gar nicht gesehen. »Das ist wirklich ganz schön makaber.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wie heißt du eigentlich?«

»Caius Cornelius Castor.« Ein leiser Unterton von Aristokratenstolz schwang in seiner Stimme mit.

Fastrada zog die Augenbrauen hoch. Den Familiennamen hatte sie schon ein paarmal aus Irmins Mund gehört. »Ein Cornelier«, sagte sie. »Das ist etwas zu klangvoll für einen Trossgehilfen.«

»Und du bist etwas zu gut informiert für eine Bäuerin«, entgegnete er mit unverhohlener Anerkennung.

Fastrada wand sich. Sie wollte auf keinen Fall, dass er erfuhr, wer sie war. »Ich heiße Fastrada«, sagte sie.

»Hört sich fast römisch an«, gab er zurück.

Sie grinste und spielte kokettierend mit einem ihrer Zöpfe. »Besonders römisch sehe ich ja nicht aus. Aber du kennst bestimmt irgendein Buch, in dem ich vorkomme.«

»Da muss ich kurz überlegen.« Er legte die Stirn in Falten.

Sie lachte laut. »Du denkst dir was aus!«, rief sie.

Bevor er antworten konnte, kam von der Frau auf dem Karren ein überdeutliches Räuspern. Die Hungrigen stauten sich immer dichter. Für jedes verteilte Fleischstück schienen drei neue Hände aus der Menge zu wachsen.

»Ich glaube, ich muss da mal helfen«, sagte Fastrada und sprang auf den Wagen.

Caius schob sich ohne jede Scheu zwischen zwei cheruskischen Kriegern durch und trat dicht an das Fuhrwerk heran. Die beiden murrten ungehalten und drängelten von hinten nach. »Ich brauche zwei«, sagte er.

Fastrada schnitt besonders saftige Brocken aus der Seite des Ochsen, spießte sie auf eine Gabel und reichte sie ihm herunter.

»Du bist ja sicher eine ganze Weile hier«, sagte er. »Ich könnte später noch mal vorbeischauen.«

»Mach das.« Sie lächelte. Und komm diesmal wirklich, dachte sie.

Die nächsten zwei Stunden war sie so beschäftigt mit dem Schneiden und Verteilen von Fleisch, dass sie nicht über das seltsame Wiedersehen nachdenken konnte. Der Andrang ebbte nur langsam ab, denn als alle versorgt waren, stellten sich die Ersten für eine zweite oder dritte Portion an. Es war die reinste Belagerung. Die meisten Männer hatten sich in Gruppen auf der Wiese niedergelassen.

Becher wurden gestürzt, Lachen brandete auf. Als der Ochse fast kein Fleisch mehr auf den Rippen hatte, ließ das Geschiebe endlich nach.

Dieser Caius hatte sich die ganze Zeit über nicht sehen lassen. Als Fastrada schon fürchtete, er würde nicht wieder auftauchen, stand er auf einmal vor dem Wagen. Sie sprang zu Boden und landete direkt vor seinen Füßen, fast etwas zu nahe. Im Rücken spürte sie den missbilligenden Blick der anderen Frau, doch sie achtete nicht darauf.

»Ich glaube, da möchte jemand nicht, dass du den Posten verlässt«, flüsterte er ihr zu.

»Die hat mir nichts zu sagen. Komm mit, wir gehen ein Stück.« Sie lief ein paar Schritte in den Wald hinein, und er folgte ihr. Was tue ich hier eigentlich, dachte sie. Es konnte Gerede geben, wenn sie beobachtet wurde, wie sie mit einem Fremden, und auch noch mit einem Römer, im Wald verschwand.