Drei Abende hatten sie sich getroffen und längst war sie verstrickt in ein Dickicht aus widerstreitenden Gefühlen: das maßlose Glück seiner Nähe, überschattet von der Angst, ihn bald zu verlieren. Tagsüber wurde ihre Vorfreude vom schlechten Gewissen getrübt. Sie wusste, in welcher Gefahr er schwebte, und sie hatte ihn immer noch nicht gewarnt. Natürlich merkte er, dass etwas sie belastete, das fiel ja sogar ihrer ansonsten ständig mit anderen Dingen beschäftigten Mutter auf, die sich schon mehrmals beklagt hatte, dass Fastrada reizbar, fahrig und kaum ansprechbar war und selbst die einfachsten Verrichtungen häufig unterbrach, um gedankenversunken ins Leere zu blicken. Mehr als einmal hatte Fastrada bei ihren Treffen im Wald angehoben, um Caius endlich zu erzählen, was sie wusste. Und immer wieder hatte sie das Vorhaben doch aufgeschoben, um sich unter die hauchdünne Oberfläche dieses fast unwirklichen Glücks zu flüchten.
Heute Abend musste sie es ihm sagen. Und dann? Brachte die furchtbare Wahrheit womöglich einen Stein ins Rollen, der alles unter sich begrub? Würde er zu Varus gehen und ihm Bericht erstatten? Würden die Römer an Ort und Stelle kurzen Prozess machen mit ihrem Stamm und mit denen, die an dem Plan beteiligt waren, also auch mit ihrer Familie? Oder würden die verbliebenen Römerfreunde Irmin und seine Mitverschwörer ans Messer liefern, um ihr eigenes Leben und ihre Stellung zu retten? War es überhaupt möglich, dass Varus eine solche Geschichte glaubte? Oder würde er alle Warnungen in den Wind schlagen und trotzdem losmarschieren, überzeugt von der Unbezwingbarkeit seiner Militärmaschine? Es half nichts: Sie musste mit Caius reden und zumindest seine Meinung dazu hören, denn es war kaum anzunehmen, dass eine glückliche Fügung alles richten würde. Caius hatte einen Verwandten unter den hohen Offizieren des Statthalters. Eventuell konnte der etwas ausrichten?
Wieder verging ein Tag ungeduldigen Wartens, der nicht enden wollenden Beschäftigung mit zerstreut ausgeführten, sinnlosen Tätigkeiten. Zum Essen schaute Irmin kurz vorbei. Sie mied seinen Blick, ließ sich auf kein Gespräch ein und er quittierte ihre Verweigerung mit Feindseligkeit. Es tat weh, ihn nach all den Jahren der Innigkeit derart abweisend zu behandeln. Stärker als ihre Missbilligung gegenüber seinem Vorhaben war aber der Widerwille, ihm ins Gesicht zu lügen. Vielleicht wird doch noch alles gut, dachte sie. Aber gleichzeitig spürte sie, dass nichts jemals wieder in Ordnung kommen würde, wenn Caius etwas zustieß.
Als ihre Schwestern eingeschlafen waren, stahl sie sich aus dem Haus. Ihre Mutter war bei irgendeiner Bekannten, um Klatsch auszutauschen, und ihr Vater war mit Irmin zu einer dieser endlosen Besprechungen gegangen, die ihr einmal mehr wie ein Vorwand erschien, um die ganze Nacht zu trinken.
Der Wald wurde durch den abnehmenden Mond nur schwach erhellt. Sie fand ihren Weg dennoch ohne Schwierigkeiten, weil sie mittlerweile jede Baumwurzel kannte, die zwischen ihrem Dorf und dem Waldrand vor der Rodung lag. Die Nacht war ungewöhnlich kühl. Wipfel rauschten leise im Wind, der dünne und ausgefranste Wolkenfäden über die Mondscheibe schleppte wie Zeichen einer rätselhaften Schrift. Baumriesen zogen vorbei, verdeckten das bisschen, was von der Kulisse des Waldes zu sehen war, gaben es wieder frei. Nichts als Bäume. Ein gefällter Stamm, der darauf wartete, zerkleinert zu werden. Ein Nachtvogel, der irgendwo aufflatterte.
Irgendwann erschien vor ihr die Lichtung. Sie blieb stehen. Wo war Caius?
Auf einmal hörte sie Schritte auf dem Waldboden. Sie drehte sich um. Caius hatte bisher immer gut sichtbar zwischen den Bäumen gewartet, bis sie sich gezeigt hatte. Jetzt war niemand zu sehen, während die Schritte von der Seite näher kamen. Plötzlich sah sie eine Bewegung hinter einem Stamm, und dann ging alles ganz schnell. Ein Schatten schoss auf sie zu, im nächsten Moment wurde sie gepackt und von dem Gewicht eines schweren Körpers gegen einen Baum geworfen. Ein Gesicht tauchte vor ihr auf, kantig, unrasiert, grinsend, gierige Augen. Eine Hand fuhr unter ihr Kinn und drückte ihren Hinterkopf gegen den Stamm, sie spürte eine Klinge am Hals, die raue Rinde im Nacken, stinkenden Atem im Gesicht und Brechreiz im Hals.
»Ein Wort, und du bist tot!«, zischte ihr eine Stimme auf Lateinisch ins Ohr. »Verstanden?« Sie deutete ein Nicken an, und die Klinge unter ihrem Kinn lockerte sich. »Dein Verehrer lässt ausrichten, dass er heute nicht kommt. Aber dafür bin ich ja da. Als Stellvertreter sozusagen.« Die Klinge verschwand, dafür packte die Hand am Kinn umso gröber zu.
Fastradas Herz raste mit ihren Gedanken um die Wette. Wehr dich, schrie eine Stimme in ihr, schlag zu, tritt zu, beiß! Das Gesicht des Mannes kam näher, ekelhafte Bartstoppeln kratzen über ihren Mund. Er keuchte. Eine Faust packte ihr Kleid in Hüfthöhe und zog mit einem Ruck daran, dass der Stoff riss. Ekel, Hass und Wut ballten sich in Fastrada zusammen, und stärker, als sie jemals zu sein geglaubt hatte, rammte sie ihr Knie mit einem Ruck zwischen die Beine des Angreifers. Er krümmte sich, taumelte zurück, wollte sich gerade wieder fangen, da schlug sie zu. Mit einer Präzision, die sie selbst überraschte, schoss ihre Faust nach oben und traf ihn unter der Nase. Er schrie gurgelnd auf, fuhr sich mit den Händen ins Gesicht, verlor das Gleichgewicht, unterdrückte Flüche quollen durch seine Finger.
Fastrada stieß sich vom Baum ab, aus dem Augenwinkel sah sie einen armdicken Ast, ihr Oberkörper schnellte nach unten, sie packte das Holz, holte aus, und als der Mann sich gerade aufrichten wollte, erwischte sie ihn mit voller Wucht zwischen den Augen. Er machte einen Satz nach hinten, drehte sich einmal um sich selbst und kam auf dem Bauch zum Liegen.
Sie warf den Ast weg und rannte los. Bäume flitzten an ihr vorbei, sie rannte weiter, immer weiter, stolpernd und keuchend, bis sie im Schutz der Palisade ihres Dorfes angekommen war. Japsend blieb sie stehen. Erst jetzt blickte sie sich um. Hinter ihr war niemand mehr. An den dicken Tragepfosten eines Getreidespeichers gelehnt, übergab sie sich und konnte nicht aufhören.
27
Die Fahrt war eine Tortur. Caius lag in einem Reisewagen, der über unebene Pfade ratterte und schaukelte, und jedes Mal, wenn eins der Räder an eine Wurzel oder einen Stein stieß, schoss ein dumpfer Schmerz durch seinen Körper, brandete wie eine Welle von innen gegen seine Schädeldecke, schwemmte zurück bis hinunter in seinen Magen und verursachte Übelkeit.
Was genau passiert war, konnte Caius nicht sagen. Er war mit Fastrada verabredet gewesen, an ihrem Treffpunkt im Wald nahe der Lichtung. Er erinnerte sich noch daran, dass er ungewöhnlich lange gewartet hatte, sodass er sich schon gefragt hatte, ob sie überhaupt käme. Was hatte sie aufgehalten? Hatte ihre Familie womöglich Wind von ihren heimlichen Treffen bekommen und sie zu Hause eingesperrt? War sie doch jemandem versprochen? Irgendwann setzte seine Erinnerung plötzlich aus. Als er mit dröhnendem Kopf auf dem kühlen Waldboden wieder zu sich gekommen war, war es schon vollständig dunkel gewesen.