»Dann bedanke ich mich im Namen der Frauen und Kinder«, entgegnete sie bissig. Er verließ wortlos den Raum.
Fastrada blieb trübsinnig auf ihrer Schlafstelle sitzen, abgestumpft gegen die Verzweiflung, die sich wie ein Bleiklumpen in ihrem Kopf eingenistet hatte. Schließlich gab sie sich einen Ruck und ging nach draußen, wo eine schwere Wolkendecke am Himmel hing. Es war kühler geworden. Feiner Nieselregen fiel herab. Trotz des unangenehmen Wetters beschloss Fastrada, einen Spaziergang zu machen. Es tat gut, die kühle Luft einzuatmen. Während sie lief, kam ihr die Idee, sich ein Pferd aus dem Stall zu holen und den Weg einzuschlagen, den die Römer genommen haben mussten. Konnte sie Caius noch warnen? Aber wie sollte sie ihn in dem riesigen Heerwurm finden, der sich ins Verderben wälzte? Wie könnte sie überhaupt den Zug erreichen, ohne aufgegriffen zu werden? Die Wälder wimmelten wahrscheinlich schon von Irmins Leuten. Und selbst wenn es ihr gelang, sich durchzuschlagen – würde Caius sich mit ihr absetzen?
Niedergeschlagen kehrte sie gegen Abend ins Dorf zurück. Niemand war zu sehen. Vor Irmins Haus grasten zwei Dutzend Pferde, und von innen drang das Gelärme der Männer, die sich am Abend vor ihrem Aufbruch offenbar noch einmal richtig betrinken wollten.
Im Haus ihres Cousins war wie bei den meisten der größeren Wohngebäude eine Flechtwerkwand eingezogen, die den Stallbereich vom Wohnraum abtrennte. Fastrada umrundete das Gebäude und schlüpfte, von bohrender Neugier und einer plötzlichen Eingebung getrieben, durch den niedrigen Eingang in den Stall. Sie kniete sich vor die Wand. Hinter ihr raschelten ein paar Rinder im Stroh. Sie spähte durch eine Ritze im Geflecht in den Wohnraum, in dem an die dreißig Männer an langen Tischen saßen, darunter bekannte Gesichter: ihr Vater Inguiomer, Irmin, entferntere Verwandte und ein paar andere, die sie schon irgendwo gesehen hatte. Fast der ganze höhere Adel der Cherusker war hier versammelt. Sie lauschte angestrengt, verstand aber immer nur Bruchstücke, weil alle wild durcheinandersprachen. Von Legionsadlern war die Rede, die man Marsern, Brukterern und Chatten als Siegestrophäen versprochen hatte.
Plötzlich brachen die Unterhaltungen ab. Das Geräusch eines herangaloppierenden Pferdes war zu hören, das mit einem Mal abrupt verstummte. Die Männer an den Tischen blickten zur Tür. Einen Augenblick war es ganz still, dann taumelte ein übel zugerichteter Mann gegen den Türrahmen, der im nächsten Moment von hinten einen Tritt bekam und der Länge nach in den Raum fiel, wo er reglos liegen blieb. Fastrada hielt den Atem an. Im Dämmerlicht des Eingangs erschien jetzt ein großer, massiger Mann, ein Römer, offensichtlich ein hoher Offizier. Er trug einen versilberten Brustharnisch, modelliert in der Form eines athletischen Oberkörpers, der im Widerschein des Feuers unstet und bedrohlich glänzte. In seiner Rechten hielt er lässig zur Erde gesenkt ein Schwert.
Einige der Männer sprangen auf, aber Irmin bedeutete ihnen mit einer unwirschen Handbewegung, sich wieder zu setzen.
Der Römer schaute in spöttischer Gelassenheit in die Runde, trat vor und gab dem am Boden Liegenden einen Tritt in die Seite, dass dieser stöhnend auf den Rücken rollte.
Was in aller Welt machte der Mann hier? Durch den Schlitz in der Wand sah Fastrada, dass ihr Vater sein Entsetzen hinter einer steinernen Grimasse zu verbergen versuchte.
Der Römer sagte immer noch nichts. Seine drohende Haltung, die Mischung aus Brutalität und Gelassenheit, jagte Fastrada einen Schauer über den Rücken.
»Hoher Besuch«, sagte Irmin jetzt in betonter Lässigkeit. »Was führt dich zu uns?«, fragte er wie selbstverständlich auf Lateinisch.
Der Eindringling blickte ihn mit geheuchelter Freundlichkeit an. »Frag lieber: Wer führt dich zu uns?« Er versetzte dem Verletzten einen weiteren Fußtritt, nicht mehr ganz so grob, fast schon achtlos. Fastrada erschauerte. Sie konnte kaum hinsehen. »Er hat mir eine bemerkenswerte Geschichte erzählt.«
Einige der Männer im Raum steckten die Köpfe zusammen, offenbar musste übersetzt werden.
Gespielte Enttäuschung machte sich jetzt auf dem Gesicht des Römers breit. »Schlimm ist das«, sagte er kopfschüttelnd. »Dass man heutzutage keinem mehr trauen kann. Da bringt man den Leuten Wein. Austern. Oliven. Datteln. Da baut man ihnen Städte. Thermalbäder. Bergwerke. Wasserleitungen. Da verspricht man ihnen Geld. Macht. Karrieren. Lauter saftige Stücke vom großen Braten der römischen Zivilisation. Und wie wird es einem gedankt? Na?« Er blickte in die Runde, während die Übersetzer murmelten. »Da marschiert man durch den Wald, um ihnen ihre unfreundlichen Nachbarn vom Hals zu halten, und sie haben nichts Besseres zu tun, als aus dem Hinterhalt über einen herzufallen.«
»Komm zur Sache«, presste Irmin zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Wenn du hier wärst, um uns festzusetzen, wären die Prätorianer dabei.«
Der Römer grinste. »Wie klug du bist«, sagte er wie zu einem Kind, das eine knifflige Aufgabe gelöst hat. Dann wurde er plötzlich sachlich. Seine Stimme klang hart. »Es liegt bei euch, ob ich dem Statthalter morgen Bericht erstatte oder nicht. Entweder ihr akzeptiert meine Bedingungen, oder wir kehren um und verwüsten ein Dorf nach dem anderen. Dann können eure Verbündeten im Wald hocken, bis sie schwarz werden. Und du wirst nicht als Befreier in die Geschichte eingehen, nicht als neuer Marbod, dem die Stämme folgen, sondern als kleiner, mieser Verräter, der sie in die Vernichtung geführt hat.«
»Sehr schön formuliert«, sagte Irmin und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. »Und unter welchen Bedingungen würde dein Bericht an den Statthalter entfallen?«
»Die XIX. Legion wird aus den Kämpfen herausgehalten. Wir marschieren am Ende der Kolonne. Treibt einen Keil zwischen uns und den Rest. Ich werde ausschwenken und einen weiten Bogen nach Norden machen. Varus wird denken, dass ich euch in den Rücken fallen will. Bis ich da bin, seid ihr mit den anderen fertig, und wir ziehen ab. Ihr lasst uns gehen. Aber macht es uns nicht zu leicht.«
»Und du kommst als Retter der XIX. Legion nach Rom.«
»Du sagst es.«
»Und im nächsten Jahr seid ihr wieder da.«
»Natürlich. Aber zurückkehren werden wir so oder so.«
»Der Krieg geht weiter.«
»Als wäre nichts gewesen«, sagte der Römer befriedigt, beugte sich vertraulich zu Irmin herunter und zog eine Augenbraue hoch. »Aber das ist es doch, was wir wollen. Oder nicht? Dir macht der Krieg Spaß. Mir macht der Krieg Spaß. Neuer Feldzug, neues Glück. Und zwischendurch lassen wir uns beide ein bisschen feiern.«
Ein kaum sichtbares Lächeln spielte um Irmins Lippen. Schließlich fragte er: »Und wer garantiert dir, dass wir uns an die Abmachung halten?«
Der Römer tat überrascht, als hätte er ein wichtiges Detail übersehen. »Gute Frage.« Er lächelte boshaft. »Dein Ehrenwort allein erscheint mir unter den gegebenen Umständen etwas wenig.« Das Lächeln verschwand, und er richtete sich wieder auf. »Unser Lager ist zwölf Meilen nördlich von hier. Bevor wir aufbrechen, bringt ihr mir zwölf Geiseln. Aus euren Familien. Vielleicht nicht unbedingt die Großmütter.«
»Das ist ziemlich kurzfristig«, entgegnete Irmin.
»Wie du es anstellst, ist mir gleich. Wenn wir über den Rhein sind, schicke ich sie dir zurück.«
»Ich werde drüber nachdenken.«
»Wirst du nicht. Das war kein Angebot, sondern meine erste Bedingung. Und jetzt kommt die zweite.«
»Du willst, dass wir Frauen und Kinder laufen lassen«, sagte Irmin spöttisch.
Der Römer lachte schallend. »Damit ich sie mitschleppen muss? Nein danke.«
»Sondern?«
»Varus hat etwas bei sich, das ich brauche. Für euch ist es wertlos. Bevor wir abmarschieren, bekommt ihr noch mal Besuch von mir. Bis dahin wird das Gepäck des Statthalters nicht angerührt. Ich nehme mir, was ich haben will, und dann heißt es Abschied nehmen in aller Freundschaft.«