Du musst aufstehen, dachte Caius. Immerhin wich die Taubheit allmählich aus seinen Gliedmaßen, obwohl sie sich noch bleischwer anfühlten. Er wälzte sich auf die Seite und stemmte sich hoch, dabei wurde ihm so übel, dass er sich beinahe übergeben hätte. Sein ganzer Körper war mit Schlamm bedeckt, der eine harte, verkrustete Schicht bildete.
Bis auf das Hämmern in seinem Kopf war es totenstill im Wald. Mit Mühe blickte Caius nach rechts. An einer merkwürdig verwachsenen Buche erkannte er, dass er sich immer noch an der Stelle befand, wo er zuvor inmitten der ganzen Kolonne marschiert war. Vorhin – vor einer Stunde? Vor vier Stunden? Jetzt lagen überall Tote und verstreutes Gepäck herum, dazu einige Packwagen, ein paar davon ohne die Gespanne, bei anderen hingen die Zugtiere tot im Geschirr.
Der Reisewagen des Statthalters war weg. Sie haben Varus, dachte Caius, und das Dröhnen in seinem Kopf schwoll an. Sie haben seinen Wagen und sie haben den Kasten. Unwillkürlich stellte er sich vor, wie eine Gruppe dieser Barbaren den Kasten aufbrach und beim Anblick ihres Inhalts ungläubig erstarrte. Der Gedanke war unerträglich. Das größte Geheimnis des Imperiums, verschollen in einem namenlosen Wald in Germanien. Was in diesem Kasten war, durfte es eigentlich gar nicht geben. Wenn Augustus davon erfährt, dachte Caius, wird in Rom die Erde beben.
Merkwürdig, dass ihm diese Geschichte ausgerechnet jetzt einfiel, wo nichts unwichtiger war. Langsam dämmerte Caius, wie schlimm seine Situation war. Er befand sich in feindlichem Land, dessen Bewohner beschlossen hatten, alle Römer niederzumachen. Vom Heer war keine Spur zu sehen, vielleicht gab es gar keins mehr. Es konnte nicht lange dauern, bis irgendwelche germanischen Krieger auftauchen würden, um die liegen gebliebenen Wagen auszuplündern. Sie würden ihn entdecken und kurzen Prozess mit ihm machen. Er konnte kaum hoffen, den nächsten Tag zu erleben, und das Erste, was ihm einfiel, war Varus und sein Geheimnis. Ein irres Lachen gluckste in ihm hoch. Es war verrückt. Wenn die Cherumpler mir einen letzten Wunsch gewähren, dachte Caius, dann will ich sie bitten, einen Blick in den Kasten des Statthalters werfen zu dürfen. Anschließend können sie mir den Kopf abhacken. Wieder lachte er auf. Eine solche Bitte hätte zu Lucius gepasst. Lucius. Wo war Lucius? Es war unmöglich, dass er den Schauplatz des Überfalls aus eigenen Kräften verlassen hatte, ohne nach ihm zu suchen. Lucius hätte ihn eher auf den Schultern weitergetragen, als ihn hier liegen zu lassen. Eine schlimme Gewissheit wallte in Caius auf und schnürte seine Kehle zu.
Caius griff sich an die Stirn. Es brannte, als seine Finger eine riesige Platzwunde ertasteten. Getrocknetes und vom Brackwasser wieder aufgeweichtes Blut bildete eine klebrige Masse, die sein ganzes Gesicht bedeckte. Er musste furchtbar aussehen. Sein linkes Auge war angeschwollen, und auf seiner Tunika waren dunkle Flecken.
Sein Blick schweifte zwischen den Toten umher, die mit leeren Augen in den Himmel starrten. Neben zwei Dutzend Legionären lagen mindestens ebenso viele germanische Krieger im Schlamm, merkwürdig verrenkt, blutüberströmt, Pfeile und Speere steckten in ihren Körpern. Lucius konnte er nicht entdecken.
Es war heller geworden, der Himmel über den Baumwipfeln war aufgerissen, und die schon ziemlich tief stehende Sonne zeigte sich zögernd in einem der noch spärlichen blauen Löcher.
Caius machte einen ersten Schritt. Dann einen zweiten. Ich muss der Spur folgen, dachte er. Es kann nicht sein, dass sie alle umgekommen sind. Sie sind weitergezogen und haben irgendwo ein Lager gebaut. So zerschmettert konnte eine Legion nicht sein, dass sie kein Nachtlager baute.
Während er sich am Rand der Wagenspuren und Hufabdrücke entlangschleppte, versuchte Caius abzuschätzen, wie weit die anderen ihm voraus sein konnten. Der Überfall hatte gegen Mittag stattgefunden. Jetzt war es nach dem Stand der Sonne später Nachmittag. Er hatte mehrere Stunden dort gelegen.
Seine Schritte wurden sicherer und fester. Das Hämmern in seinem Kopf hatte sich zu einem erträglichen Pochen abgemildert.
Plötzlich nahm Caius zwischen den Bäumen eine Bewegung wahr. Ein Schreck durchfuhr ihn, doch noch im selben Augenblick beruhigte er sich wieder. Ein Pferd stand neben einem der getöteten Germanen und schnupperte an der Leiche. Caius beschleunigte seine Schritte. Die Götter meinen es gut mit mir, dachte er. Vorsichtig näherte er sich dem Tier. Er streichelte den Hals, dann glitt seine Hand über den Widerrist zum Sattel, an dem ein Schwertgehänge befestigt war. Das Schwert steckte noch in der Scheide. Caius wusste, was der Sprung in den Sattel in seinem Kopf anrichten würde, aber er nahm sich zusammen, ging in die Knie und federte mit einem entschlossenen Satz nach oben. Es gelang ihm tatsächlich, im Sattel zu bleiben. Er griff nach den Zügeln und lenkte das Pferd auf den Grasstreifen zwischen dem aufgeweichten Weg und dem Waldrand.
Nachdem er eine scharfe Biegung hinter sich gelassen hatte, hörte Caius auf einmal Stimmen. Er brachte das Pferd zum Stehen, aber da war es schon zu spät: Vier Germanen, die sich zwanzig Schritte vor ihm an der Plane eines umgestürzten Wagens zu schaffen machten, starrten ihn an. Einen Moment verharrten sie, schienen noch nicht begriffen zu haben, wen sie vor sich hatten. Caius wollte das Pferd gerade herumreißen, da sah er aus dem Augenwinkel zwei weitere Gestalten schräg hinter sich, die ihm den Rückzug versperrten. In einem plötzlichen Entschluss riss er das Schwert aus der Scheide und rammte dem Pferd die Fersen in die Flanken. Das Tier machte einen Satz nach vorn und galoppierte los, die Germanen schrien irgendetwas, griffen nach ihren Waffen, doch da war Caius schon zwischen ihnen, ließ das Schwert kreisen, die Männer sprangen in Deckung, dann war er auch schon vorbei. Er trieb das Pferd weiter an. Leichen, Tierkadaver und Gepäckwagen flirrten an ihm vorbei. Erst nach einer weiteren Biegung ließ er das Tier in den Schritt zurückfallen. Er keuchte, in seinem Kopf hämmerte es wieder. Du musst vorsichtiger sein, sagte er zu sich selbst.
Nach einer Weile waren keine Kampfspuren mehr zu sehen, die Abdrücke der Räder und Hufe zogen sich jedoch unbeirrbar weiter durch den Wald. Ein gutes Zeichen, dachte Caius. Offenbar war tatsächlich ein großer Teil des Heeres dem Überfall entkommen. Es begann zu dämmern. Umso besser. Auf diese Weise war es leichter, plündernd umherstreifenden Gruppen von Kriegern auszuweichen.
Als es bereits stockdunkel war, erblickte er vor sich eine Reihe von schwachen Lichtern. Vorsichtig ritt er näher. Während er noch überlegte, ob es besser war, sich zu Fuß heranzupirschen, erklang ein Horn. Ein vertrautes Signal. Wachwechsel. Er hatte das Lager erreicht! Eine unbeschreibliche Erleichterung ergriff ihn. Er ließ das Pferd antraben. Die Bäume traten zurück und gaben den Blick frei auf eine Wallfront. Vier Gestalten mit Fackeln lösten sich aus dem Dunkel und traten Caius entgegen.
»Wer ist da?«, rief eine Männerstimme grimmig und nervös zugleich. Das schleifende Geräusch von mehreren aus Metallscheiden gezogenen Schwertern war zu hören.
»Caius Cornelius Castor«, antwortete Caius.
»Näher kommen!«, kam es barsch zurück. »Und absitzen, sofort!«
Caius schwang sich vom Pferd und bewegte sich langsam auf die Gruppe zu.
Ein Legionär trat an ihn heran und leuchtete ihm ins Gesicht, dann drehte er sich zu den anderen um. »Der Senatorensohn!«, rief er.
»Durchlassen!«, kam die Antwort.
Caius nahm das Pferd am Zügel und ging zwischen den Männern durch. Hinter der Palisade tat sich eine weite Fläche auf, Zelte standen dicht an dicht. Lagerfeuer brannten und tauchten das Gewühl aus Tausenden von umherlaufenden Soldaten in ein schummeriges Licht. Hier und da wurde Essen zubereitet, und überall schwirrten Gespräche durch die Luft.