Caius nickte. In der Tat hatte es keinen Sinn, dass sie jemanden wie Lucius umbrachten. Allerdings konnte sein Freund genauso gut im Getümmel umgekommen sein. Caius versuchte den Gedanken zu verdrängen und sich stattdessen an die Hoffnung zu klammern, dass Lucius noch am Leben war.
Wieder erklangen von draußen Signale, und kurz darauf zeigte sich erneut der Sklave im Eingang. Silanus nickte und erhob sich stöhnend. Er gab Caius ein Zeichen, ihm zu folgen. Dann traten beide ins Freie.
Soldaten waren dabei, Aufstellung zu nehmen. Trossknechte hatten Hunderte von Wagen zu großen Karrees zusammengeschoben und die Zugtiere ausgespannt. Während die Legionäre in erstaunlich schnellem Tempo mit geschultertem Gepäck abrückten, warfen einige Männer Fackeln in die Wagen, die zögerlich Feuer fingen.
Silanus wurde von zwei Sklaven in den Sattel gehoben. Dann tauchte ein weiterer Sklave auf. Er hatte einen Brustharnisch in der einen Hand und einen Helm in der anderen.
»Beeil dich«, sagte Silanus.
Der Sklave legte Caius mit sicheren Handgriffen den Panzer an. Caius war überrascht, wie schwer das Metall an seinem Körper hing, der Harnisch fühlte sich viel zu groß an. Auf der Brust war eine große Beule. Ob am Vortag jemand in dieser Rüstung gestorben war? Anschließend setzte ihm der Sklave den Helm auf und schloss den Kinnriemen. Caius kam sich lächerlich vor, außerdem machte das Gewicht des Helms seinem versteiften Nacken zu schaffen. Ein anderer Sklave brachte sein Pferd und half ihm in den Sattel.
Silanus ritt los, und Caius folgte ihm. Sie überholten eine lange Kolonne von Legionären, die in Sechserreihen marschierte. Als sie das provisorische Tor im Fackelschein passierten, waren die Wachen bereits abgezogen.
Caius ließ seinen Blick über den Zug schweifen. Wie ein Symbol der Unbeugsamkeit glänzte weit vorn ein Legionsadler. Davor schleppte sich ein unermesslicher Pulk von Trossleuten voran, Frauen, Kinder und notdürftig bewaffnete Männer. Zwischen ihnen kämpften sich einige Wagen mit Verwundeten über den aufgeweichten Boden. Unter den Planen stöhnte es bei jeder Unebenheit. Caius schaute sich ein letztes Mal um. Hinter ihnen loderten jetzt hohe Flammen empor.
Die Kolonne tauchte in den Wald ein. Der Weg wurde enger und enger, und die Formationen mussten sich nach kurzer Zeit neu aufstellen, die Sechserreihen wurden aufgelöst und wichen einer unregelmäßigen Ordnung. In der Ferne war nichts als Fackelschein zu sehen, in die Tiefe gestaffelte Lichter, die eine schnurgerade Kette bildeten. Eine Armee von Glühwürmchen, dachte Caius.
Sie passierten den zweiten Adlerträger, dann kam endlich der Stab in Sicht. Wieder dachte Caius an Varus und das, was er vor den Augen aller anderen verbarg. Das vergiftete Geschenk des Schicksals. Ob der Statthalter daran dachte, was damit geschehen mochte, wenn das ganze Heer unterging? Was würde er zu opfern bereit sein, um sein Geheimnis zu retten? Hatte er einen Plan, um es im Notfall verschwinden zu lassen?
Silanus wandte sich im Sattel um, sein Gesicht war kaum zu erkennen. »Bleib zwischen den Wagen«, sagte er. »Ich komme gleich zurück.«
Caius ritt stumm weiter und versuchte, nicht an die Schmerzen in seinem Kopf zu denken. Irgendwann zeigte sich das erste Dämmerlicht zwischen den Bäumen, und schließlich wurde es Tag. Nieselregen setzte ein.
Nach mehreren Stunden, in denen Silanus sich nicht wieder hatte blicken lassen, erhob sich plötzlich lautes Geschrei rechts von ihnen im Wald.
Caius nahm alles wie durch einen Schleier wahr. Trotz der allgemeinen Aufregung verspürte er keine Angst, als mit einem Mal wilde Gestalten wie aus dem Nichts auf sie zustürmten. Sofort geriet Unruhe in die Kolonne. Soldaten rissen ihre Schilde hoch, der Tross kam ins Stocken. Reiter sprengten heran. Reihen formierten sich aus dem Gewühl, Caius wurde nach hinten gedrängt, das Gebrüll war auf einmal überall, übertönt vom Klang einiger Signalhörner. Die Barbaren wurden immer mehr, als spuckte der feuchte Waldboden sie aus. Sie flitzten geduckt zwischen den Stämmen umher und fanden zu einer Mauer zusammen. Die Legionäre rückten noch dichter aneinander, von vorn rannte eine Kette von dunkelhäutigen Bogenschützen heran, nahm auf ein von irgendwo gebrülltes Kommando hin Aufstellung und ließ eine erste Salve von Pfeilen in den Wald rauschen. Auch von dort erhob sich eine sirrende Wolke. Caius duckte sich, sein Pferd scheute und rutschte mit einem Huf über eine Wurzel, knickte kurz weg, fing sich aber wieder. Neben ihm sackten Soldaten zu Boden, andere schleuderten ihre Speere in Richtung der Feinde. Scharfe Befehle hinderten sie am Nachsetzen. Die Schlachtreihe blieb geschlossen, doch anstatt weiter voranzustürmen, warfen jetzt auch die Angreifer ihre Speere in die Schildwand, wo sie wenig Schaden anrichteten. Dann machten sie kehrt und verschwanden, so schnell sie gekommen waren, im Regen.
34
Der Rest des Tages war ein einziger Albtraum. Kaum waren die Verwundeten versorgt und die Kolonne einigermaßen in Aufstellung gebracht worden, da sprengten in schneller Folge Reiter heran und meldeten schwere Angriffe an immer anderen Stellen des Zuges, die zwar jedes Mal abgeschlagen worden waren, aber wegen der Schnelligkeit und Unberechenbarkeit der Gegner hohe Verluste gebracht hatten. Die Taktik war immer die gleiche: Schwärme von Pfeilen und Speeren, teilweise gefolgt von kurzem Nahkampf, der von den Angreifern durch blitzartige Rückzüge abgebrochen wurde, sobald die Legionäre sich einigermaßen formiert hatten. Die mitgeführten Katapulte konnten nicht rechtzeitig in Stellung gebracht werden und hatten ohnehin kaum Wirkung. Die Germanen stoben wie Vogelschwärme auseinander und fanden in kleinen Pulks unerwartet wieder zusammen, die sich gezielt auf schlecht verteidigte Abschnitte stürzten, Wagen umwarfen und Gefangene fortschleppten. Die ständigen Angriffe auf die Trosswagen vermehrten die Unruhe bei den Soldaten, denn immer wieder verließen einzelne Legionäre die halbwegs geordneten Formationen, um ihre verbliebenen Habseligkeiten und ihre Angehörigen zu verteidigen.
Bald waren kaum noch genügend Wagen vorhanden, um die Verwundeten zu transportieren. Melder galoppierten nach hinten, um die Nachzügler zum schnellen Aufschließen anzutreiben und die Kolonne zusammenzuhalten, in der immer größere Lücken klafften. Die Zahl der Gegner hatte sich beträchtlich vermehrt. Zuweilen dröhnte Gebrüll aus dem Wald, ohne dass sich jemand blicken ließ, und jedes Mal geriet der Zug aufs Neue ins Stocken. Gerüchte flogen von Mund zu Mund: Von gefangenen Centurionen war die Rede, die furchtbar zugerichtet entlang des Weges an Bäume gebunden aufgefunden und auf Anordnung der Offiziere sofort entfernt worden waren, um die Moral nicht weiter zu schwächen. Der kürzeste Weg an die Lupia hätte über den Höhenzug im Süden geführt, ein Abschwenken in diese Richtung erschien den meisten Offizieren aber zu riskant, weil das Bergland den Aufständischen zahllose Gelegenheiten für Hinterhalte bot. Schließlich schickte man Kundschafter in alle Richtungen. Ob sie zurückkehren würden, war ungewiss.
Und es kam noch schlimmer. Irgendwann am frühen Nachmittag wurde zur Gewissheit, was seit einigen Stunden befürchtet wurde: Die XIX. Legion war vom Ende des Zuges abgetrennt worden, über ihren Verbleib gab es keine sicheren Nachrichten. Offenbar hatten die Barbaren bei einem großen Angriff auf den Tross der in der Mitte der Kolonne marschierenden XVIII. Legion so viele Wagen umgestürzt und angesteckt, dass es dahinter kein Durchkommen mehr gab. Varus ließ den Zug anhalten, Boten rasten unablässig hin und her, und irgendwann war tatsächlich ein Meldereiter von Rullianus darunter, der berichtete, die XIX. habe den Hauptweg verlassen und sei dabei, sich weiter nördlich auf einer parallel verlaufenden Route durchzuschlagen. Das Heer würde mindestens bis zum Abend aufgespalten sein, und genau das schienen Arminius und seine Leute beabsichtigt zu haben. Schließlich schallten wieder Hornsignale durch die Bäume, und die Kolonne ruckte an. Stockend ging es weiter. Nach einer halben Stunde marschierten sie wieder einigermaßen zügig.