Caius hielt sich dicht hinter dem Stab mit den Wagen, die von einer undurchdringlichen Mauer aus Legionären und Prätorianern abgeschirmt wurden. Er fühlte, wie die Kräfte ihn verließen. Regen tropfte vom Rand des Helms, sickerte über sein Gesicht und unter die Rüstung. Bald hing er mehr auf dem Rücken des Pferdes, als darauf zu sitzen. Seine Hände und Füße waren eiskalt und er schwankte zwischen Hoffnung und Verzweiflung.
Irgendwann öffnete sich die lebende Wand aus Panzern und Schilden vor ihm und gab Silanus frei.
Er saß reglos auf seinem Pferd und wartete, bis Caius zu ihm aufgeschlossen hatte. »Alles in Ordnung?«, fragte der Tribun teilnahmsvoll.
Caius nickte müde. »Wie lange soll das denn noch so weitergehen?«
»Bis es zu Ende ist.«
»Schöner Trost.«
Silanus legte die Stirn in Falten. »Reiß dich zusammen. Gleich kommt eine Lichtung.«
»Wann ist denn gleich?«
Silanus lächelte. »Gleich ist, wenn du anfängst, es zu glauben.«
Caius lachte freudlos auf. »Dann fange ich jetzt also an, es zu glauben«, sagte er spöttisch.
Kurz darauf löste sich ein weiterer Reiter aus der Reihe der Wachen vor ihnen und wandte sich direkt an Silanus. »Wir haben gerade Meldung bekommen, dass die Spitze des Zuges eine Lichtung im Wald erreicht hat.«
Silanus lachte triumphierend auf und blickte zu Caius. »Was habe ich gesagt?«
Es ging schon gegen Abend zu, da tauchte vor ihnen zwischen den Stämmen tatsächlich eine freie Fläche auf. Es war eine riesige, leicht abschüssige Ebene, die erst fern am Horizont wieder vom Wald begrenzt wurde. Ein Raunen ging durch die Reihen der Soldaten, und der Marschtritt beschleunigte sich. Bald sprang die beklemmende Enge der Bäume zurück. Die Sonne brach am Horizont zaghaft durch den aufreißenden Himmel und ließ die Wolkenfetzen zartrosa aufleuchten. Immer noch regnete es, und während sich der Zug aus Menschen, Tieren und Wagen über die dunkelgrün daliegende Fläche ergoss, zeigte sich ein blasser Regenbogen. Soldaten stießen sich an und zeigten zum Himmel, riefen sich etwas zu, eine fast schon hysterische Euphorie pflanzte sich von einem zum anderen fort, als seien das Erreichen des freien Geländes und das Erscheinen des Regenbogens gleichbedeutend mit dem Ende aller Gefahren, als befänden sie sich nicht fünf oder sechs Tagesmärsche von der rettenden Grenze zu Gallien, ohne Vorräte und ohne Gepäck, abgekämpft und übermüdet und umgeben von Gegnern. Caius konnte sich von der Begeisterung nicht mitreißen lassen. Wahrscheinlich sahen nicht weit von hier die Barbaren ebenfalls zum Himmel auf und deuteten den Regenbogen als eine Aufforderung ihrer Götter, den Römern endgültig den Garaus zu machen.
Er ritt weiter hinter dem waffenstarrenden Karree her, das Varus und sein Gefolge umgab, während der Wald hinter ihm pulkweise Soldaten und Trossleute ausspuckte und Reiter zu den Seiten ausschwärmten, um das Gelände zu sichern. Wieder erklangen Signale, überall formierten sich Gruppen, traten unter den Feldzeichen zusammen, strebten bestimmten Punkten am Rand der für das Lager vorgesehenen Fläche zu, fächerten sich zu langen Reihen auf und begannen einen Graben auszuheben. Einige wenige Wagen rollten heran, Säcke, Kisten und prall gefüllte Wasserschläuche wurden abgeladen und verteilt, Befehle echoten über die weite Fläche. Trotz der schrecklichen Ereignisse funktionierte die Maschine noch immer, als sei nichts geschehen, wie Caius verwundert feststellte. Es dauerte keine Stunde, dann war das notdürftige Nachtlager fertig, eigentlich eine triste Anlage, die jedoch allen, die sich innerhalb des Walls befanden, ein Mindestmaß an Sicherheit vermittelte.
Caius stand unschlüssig herum, während neben ihm das Pferd im moosigen Boden herumschnupperte. Erste Fackeln loderten auf.
»Du da!«, rief plötzlich eine Stimme hinter ihm. »Hast du nichts zu tun?«
Caius drehte sich um. Ein älterer, dicklicher Centurio trat auf ihn zu. Im Näherkommen schien er Caius zu erkennen, offenbar wusste ja nun langsam jeder, wer er war. Der Centurio blieb ein paar Schritte vor Caius stehen, seine grauen Haare waren schweißverklebt, seinen Helm mit dem quer sitzenden roten Federbusch trug er unter den Arm geklemmt.
»Nein«, sagte Caius, der die barsche Frage fast schon mit Erleichterung zur Kenntnis genommen hatte. »Aber ich mache mich nützlich, wenn ich kann.«
»Das hört man gern«, brummte der Centurio. »Ich brauche einen Mann für die Wache auf dem Wallabschnitt da hinten«, sagte er und wies in Richtung des Waldsaums, der still und dunkel dalag, als hätte er seine Schuldigkeit getan. »Melde dich dort und lass dich einweisen«, sagte der Centurio. »In zwei Stunden ist Ablösung. Dann kannst du was essen.«
Caius nickte und machte sich auf den Weg. Am Fuß des Walles standen einige Legionäre, die ihm eine brennende Fackel in die Hand gaben und ihn auf einen Abschnitt an der Schmalseite des Lagers schickten. Caius erklomm die knapp mannshohe Aufschüttung in der Mitte des ihm zugewiesenen Teilstücks und begann auf und ab zu gehen, die Augen angestrengt auf den Waldrand geheftet. Obwohl er den ganzen Tag keine Gelegenheit gehabt hatte, sich auzuruhen, war seine Müdigkeit unbemerkt von ihm abgefallen. Selbst der Brustpanzer schien leichter geworden zu sein. Fast hoffte er, dass irgendetwas passierte, nur damit er Meldung machen und damit seiner Aufgabe einen Sinn geben konnte. Du bist wahnsinnig, dachte er. Angesichts der grotesken Situation musste er unwillkürlich grinsen. Mit schief sitzendem Helm, verbeultem Brustpanzer und einem völlig zugeschwollenen Auge schob er Wachdienst auf dem Wall eines notdürftigen Lagers, das zwei halb zerschlagene Legionen irgendwo im Barbarenland errichtet hatten – sein Vater hatte sich seinen Aufenthalt in der neuen Provinz wohl etwas anders vorgestellt.
Wieder klangen Hörner durch die weit fortgeschrittene Dämmerung. Caius wandte seinen Blick kurz vom Waldrand ab und spähte in das Innere des Lagers. Die Legionäre hatten Aufstellung genommen und strebten dem Zelt des Statthalters zu.
Caius versuchte zu erkennen, was vor sich ging. Irgendwann stieg ein Mann auf eine Art Podest und hob einen Arm, woraufhin sofort Ruhe einkehrte. Es war Varus, der, kaum dass er seine Männer zum Schweigen gebracht hatte, das Wort ergriff und zu einer Ansprache anhob, von der Caius nichts verstehen konnte, obwohl die Stimme im Verlauf der Rede immer lauter und entschlossener wurde. Einzelne Wortfetzen brandeten heran, wohlgesetzte Pausen heizten die Stimmung auf, gefolgt von bellenden Tiraden, die von den Legionären beantwortet wurden, indem sie im Takt mit den Schwertern auf ihre Schilde schlugen. Nachdem das Dröhnen verstummt war, schickte Varus noch ein paar letzte Worte hinterher, stieg dann von seinem Podest und verschwand im Zelt, während die Männer sich langsam in alle Richtungen zerstreuten. Caius besann sich wieder auf seine Aufgabe.
Plötzlich näherte sich von hinten ein Reiter im Galopp, bremste kurz vor dem Wall scharf ab und sprang vom Pferd. Caius blickte sich um, doch erst als der Mann schon die Böschung erklommen hatte und direkt vor ihm stand, erkannte er das Gesicht im Schein der Fackel. Es war einer der Sklaven von Silanus.
»Du sollst sofort zum Tribun kommen«, keuchte er. »Es ist dringend.« Caius runzelte die Stirn. Was konnte jetzt so wichtig sein? Ging es Silanus schlecht? Gab es Neuigkeiten aus dem Stab, die ihn betrafen? Der Sklave nahm ihm die Fackel ab und blickte ihn auffordernd an. »Ich vertrete dich hier«, sagte er.
Caius schwang sich auf das Pferd und trieb es in Richtung des Kommandozeltes. Überall liefen Menschen umher und lagerten an kleinen Feuern, viele hatten sich auf dem Boden eingerollt, und wieder mischte sich das Stöhnen von Verwundeten unter das Tuscheln und Raunen der Soldaten.
Er fragte einen Prätorianer nach Silanus. Der Mann wies auf ein kleineres Zelt neben dem des Statthalters. Caius lenkte das Pferd bis vor den Eingang, ließ sich aus dem Sattel gleiten und trat zwischen den beiden Wachen durch.