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»Hör dir die Geschichte an«, sagte Silanus und begann Fastradas Bericht zu resümieren.

Varus schien in sich zusammenzusacken, und als die Rede darauf kam, dass Rullianus nach etwas suchte, was sich in seinem Gepäck befand, warf er Caius kurz einen drohenden Blick zu, den Fastrada nicht zu deuten wusste. Anschließend löcherte er sie mit Fragen, während er rastlos im Zelt auf und ab ging. Wie viele Krieger Irmin versammelt habe, wollte er wissen, wie sie ausgerüstet seien, ob sie mit sich verhandeln lassen würden und einiges mehr. Viel wusste Fastrada nicht.

Schließlich blieb Varus stehen und blickte wortlos zum Zelteingang. Nach einer langen Pause wandte er sich an Silanus. »Was sollen wir machen?«, fragte er.

Silanus schwieg und stierte vor sich hin. »Rullianus muss sofort ausgeschaltet werden«, murmelte er dann.

»Wir haben vorhin ein Lebenszeichen von der XIX. bekommen«, sagte Varus. »Ein Reiter hat sich durchgeschlagen. Sie lagern vier oder fünf Meilen nördlich von uns und wollen morgen dazustoßen.«

»Schick ihm eine Patrouille entgegen und lass ihn festsetzen«, sagte Silanus.

»Unmöglich, das erregt zu viel Aufsehen und macht den letzten Rest von Kampfmoral zunichte. Wir brauchen die XIX. noch. Unsere Verluste waren heute viel schlimmer als gestern. Die Hälfte der Männer ist tot oder nicht mehr einsatzfähig. Wenn das morgen so weitergeht, sind wir am Ende.«

»Hat der Bote begründet, warum die XIX. uns verloren hat?«

»Ja, und es passt zu dem, was wir gerade gehört haben. Sie sind abgetrennt worden und haben einen anderen Weg genommen.«

»Das spricht dafür, dass Rullianus seinen Plan verwirklicht hat.«

»Nicht ganz. Die XIX. ist den ganzen Tag über schweren Angriffen ausgesetzt gewesen. Offenbar hat sich Arminius nicht an die Absprachen gehalten.«

»Das scheint er irgendwie nie zu tun.«

Fastrada schauderte, als sie sich in Erinnerung rief, wie nahe ihr der Mann einmal gestanden hatte, von dem hier die Rede war. In diesem Augenblick fühlte sie sich ihm völlig fremd. Caius legte ihr eine Hand auf die Schulter, als ahnte er ihre Gedanken.

Varus holte tief Luft. »Das ist der schlimmste Verrat in unserer ganzen Geschichte«, wetterte er und seine Mundwinkel zitterten. Dennoch wirkte er eher maßlos enttäuscht als wütend. »Wenn wir uns schon gegen uns selbst verschwören, dann möchte ich nicht erleben, wie es weitergeht«, fügte er mehr an sich selbst gerichtet hinzu. »Ich kann gegen Rullianus im Augenblick nichts unternehmen. Wir sitzen jetzt alle in einem Boot. Wenn das hier zu Ende ist, wird er dafür bezahlen. So oder so.« Dann wandte er sich abrupt zum Gehen. Im Zelteingang drehte er sich noch einmal um. »Alles, was hier geredet wurde, bleibt unter uns«, sagte er. »Sorg dafür, dass das Mädchen mit niemandem spricht. Kann man sich auf sie verlassen?«

»Sonst wäre sie wohl nicht hier«, murmelte Silanus. Daraufhin verschwand Varus mit schnellen Schritten in der Dunkelheit.

Eine bleierne Stille legte sich über sie. Fastrada war verzweifelt. Wie es aussah, würden Irmin und seine Leute morgen oder spätestens übermorgen zum Gnadenstoß ausholen. Kurz kam ihr der Gedanke, sofort mit Caius in die Nacht hinauszureiten und sich mit ihm allein durchzuschlagen, doch ihr war klar, dass ihnen dazu die Kräfte fehlten.

»Wir sollten nun alle schlafen«, brach Silanus das Schweigen. »Morgen wird ein anstrengender Tag.« Er lachte schief. »Dieser Satz macht keinen Eindruck mehr, was?«

Sie erhoben sich von den Stühlen, ohne das Gespräch mit dem Statthalter weiter zu erörtern.

»Wir können doch hier schlafen, oder?«, fragte Caius mit matter Stimme.

Silanus zog eine Augenbraue hoch und blickte Caius an. »Hatte Apoll ein Dach als liebegirrender Hirte? Willst du es besser als er, der ein Gott ist, törichter Knabe?«

Fastrada musste lächeln. Irgendwie imponierte ihr dieser merkwürdige Mensch. Caius stöhnte auf. Er war eindeutig zu müde, um eine geistreiche Antwort zu geben.

Silanus lachte. »Natürlich könnt ihr hier schlafen«, sagte er. Dann schickte er sich an, die Fackeln zu löschen.

Caius reichte Fastrada eine Decke. Sie legte sich neben ihn auf den Boden und schmiegte sich eng an ihn. Eine merkwürdige Erregung wallte trotz der Müdigkeit in ihr auf.

»Schlaft gut«, meldete sich Silanus noch einmal aus der Schwärze. »Und eins noch: Ich erlaube mir, daran zu erinnern, dass ich auch hier bin.« An seiner Stimme hörte Fastrada, dass er grinste.

36

Caius schlief unruhig, immer wieder musste er sich vergewissern, dass Fastrada neben ihm lag. Erst wenn er ihre Wärme neben sich unter der Wolldecke spürte, ihren Atem hörte und fühlte, wie ihre Brust sich hob und senkte, wusste er, dass er alles nicht nur geträumt hatte. Mit beiden Armen hatte er sie umschlungen und sie dicht an sich gezogen. Einmal konnte er der Verlockung nicht widerstehen, sie zu küssen. Er war erstaunt, als sein Kuss erwidert wurde. Es war ein magischer Augenblick zwischen Wachen und Schlafen, gegen den die bevorstehenden Gefahren unbedeutend erschienen.

Wieder erklangen vor Sonnenaufgang Hornsignale und wieder erwachte das ganze Lager von einem Moment auf den anderen zum Leben.

Während sich Fastrada seufzend auf die Seite wälzte und Silanus auch noch zu schlafen schien, stand Caius auf und schlich sich aus dem Zelt.

Draußen nahmen die ersten Abteilungen Aufstellung, doch vom einstigen Stolz des Imperiums war nicht viel geblieben: Zerbeulte Panzer, blutverkrustete Uniformteile, mit schmutzigen Verbänden umwickelte Gliedmaßen und Köpfe, von Müdigkeit und Anstrengung ausgezehrte, unrasierte Gesichter zogen an ihm vorbei, während andere ihre verbliebenen Habseligkeiten zusammenrafften und sich hinter den Feldzeichen sammelten, die von ihren Trägern immer noch trotzig in die Höhe gereckt wurden. Einige Syrer hasteten vorbei und hätten Caius um ein Haar umgerannt. Zwei Legionäre stritten um ein liegen gebliebenes Paket mit Essensrationen, bis ein Centurio dazwischenging. Alle schienen langsam dazu überzugehen, nur an sich selbst zu denken. Maultiere wurden vor die verbliebenen Wagen gespannt, auf denen sich Schwerverwundete stapelten. Ein Mann ohne Uniform war dabei, die Verletzten anzusprechen. Auf ein Zeichen von ihm zerrten zwei Legionäre einen leblosen Soldaten vom Wagen, der offenbar in der Nacht gestorben war. Irgendwann kam jemand mit einem Bündel Stroh und stopfte es büschelweise in die Glocken der Maultiere.

Beim Anblick der Szenerie packte Caius das Grausen. Wie sollte es weitergehen? Es war abzusehen, dass diese humpelnde Marschkolonne im Lauf des Tages in kleine Teile zerhackt und aufgerieben werden würde, wenn die Germanen ihre Angriffe fortsetzten. Was würde aus ihm und Fastrada werden? Wäre es nicht besser, sich gleich abzusetzen, ohne weiter machtlos zusehen zu müssen, wie die ganze Armee unterging? Erschrocken stellte er fest, dass auch er nur noch an sich dachte. Aber war das verwerflich? Im Kampf war er ohnehin keine große Hilfe. Während er nachdenklich auf eine Kette von ruckend anfahrenden Wagen blickte, fiel ihm wieder ein, wie alles angefangen hatte.

Lucius und er auf der Raststation in den Bergen mit dem Brief des Statthalters. Lucius und er auf dem Gerüst des Stabsgebäudes von Oppidum Ubiorum. Lucius und er bei Varus, der von dem Mitbringsel der parthischen Gesandten berichtete. Lucius und er. Ihr gemeinsames Abenteuer. Sie waren dem Geheimnis so nahe gewesen, und jetzt schien alles in diesem schrecklichen Wald zu enden.

Der Himmel fand langsam zu einem zarten Blau. Über den Wipfeln der Bäume am Horizont ging die Sonne auf und riss lange Schatten aus dem sich mühsam ordnenden Chaos. Eine merkwürdige Stimmung herrschte im Lager. Es war, als würde das Land ein letztes Mal Luft holen, um dann den Atem anzuhalten.

Hinter Caius erschien Fastrada im Zelteingang, ging auf ihn zu und nahm ihn in die Arme. Ihm fiel auf, dass er sie bisher nur einmal bei Tageslicht gesehen hatte, in Castra Lupiana. Und obwohl sie übernächtigt und erschöpft wirkte, kam sie ihm vor wie eine Göttin.