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Irmin ließ sein Pferd ein paar Schritte nach vorn machen, bis er direkt vor ihr stand. »Niemand schickt mich aus dem Zelt«, sagte er. Seine Stimme bebte vor Wut.

Fastrada spürte, dass sie ihn in Verlegenheit gebracht hatte, dass es ihm peinlich war, in Gegenwart seiner Männer vorgeführt zu werden. Sie überlegte, ob es besser war, den Mund zu halten. Es konnte gefährlich sein, ihn weiter zu reizen. Sie sagte nichts, sondern blickte ihn nur an, als könnte sie in seinem Gesicht ablesen, was in ihm vorging.

»Wir hatten dieses Gespräch schon einmal«, sagte er so leise, dass es keiner der anderen verstehen konnte.

»Und deine Begründungen sind seitdem nicht besser geworden«, gab sie ebenso leise zurück.

Irmin schwieg, seine Wut schien zu verrauchen, und ein Stück der einstigen Vertraulichkeit zwischen ihnen kehrte zurück. Der alte Irmin blickte sie auf einmal an – von weit weg, aber er war es. Fastrada war verwirrt. »Ich hätte dir nicht so viel beibringen sollen«, sagte er. Er klang resigniert.

»Ich bin froh, dass du’s getan hast.« Fastrada war über ihre eigenen Worte überrascht. Sie war nicht mehr wütend.

Irmin blickte hinter sich zu seinen Männern, die unbeteiligt auf ihren Pferden saßen und sich Mühe gaben, die ganze Szene zu ignorieren. Dann sah er sie wieder an. »Was habt ihr vor, du und dein Römer? Wollt ihr zum Rhein?«

»Ja«, sagte sie zögernd. Es widerstrebte ihr, etwas über ihre Pläne preiszugeben.

»Du weißt, wie gefährlich der Weg mitten durchs Land ist – mit ihm da.« Er nickte mit dem Kopf in Caius’ Richtung, der sie jetzt ratlos ansah.

»Ohne ihn gehe ich aber nicht.«

Irmin schien mit sich zu kämpfen. »Ich gebe euch zwei von meinen Männern mit«, sagte er schließlich. »Sie sorgen dafür, dass euch niemand anrührt.«

Fastrada schaute ihren Cousin lange an. Sein Gesicht hatte jede Härte verloren. Eben noch hatte sie Angst vor ihm gehabt, jetzt machte er sich plötzlich wieder Sorgen wie der große Bruder, der er jahrelang für sie gewesen war. Nachdem so viel zwischen ihnen zerbrochen war, war dieser versöhnliche Augenblick fast wie ein Neuanfang, auch wenn sie wusste, dass der Graben zwischen ihnen nicht zu überbrücken war. Und trotz allem hoffte sie, ihn so in Erinnerung zu behalten.

Irmin wendete sein Pferd und gab den Reitern ein paar Anweisungen. Sie nickten. Dann drehte er sich noch einmal um und wandte sich plötzlich an Caius. »Pass auf sie auf«, sagte er auf Lateinisch. »Manchmal gehen die Pferde mit ihr durch.«

Caius war so überrascht, dass er kein Wort hervorbrachte.

Irmin gab seinen Leuten einen Wink, und bis auf zwei Männer galoppierten sie davon. Bald erstarb das Hufgetrappel im Wald.

Wir sind gerettet, dachte Fastrada.

39

Am fünften Tag ihrer Reise wurde die glitzernde Oberfläche des Stroms zwischen den Bäumen sichtbar. Caius wurde leicht ums Herz, auch wenn die Gerüchte, die überall im Land kursierten, Anlass zur Sorge gaben.

Vom Untergang des römischen Heeres war die Rede. Varus, so erzählte man sich, habe Selbstmord begangen. Die Offiziere seien den Göttern geopfert worden. Vala habe sich mit der Reiterei abgesetzt und sei unauffindbar. Ein römisches Lager, in dem sich die letzten Verteidiger verschanzten, werde belagert. Neue Legionen seien im Anmarsch.

Caius hatte den Kasten mit den Adlern die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen.

Es war total verrückt. Er brachte drei vor über sechzig Jahren am anderen Ende der Welt verloren gegangene Legionsadler nach Rom zurück, im Auftrag eines Mannes, der selbst gerade drei Legionsadler verloren hatte und mit einer Eskorte des Mannes, der sie ihm abgenommen hatte.

Ihre Begleiter fanden tatsächlich einen Schiffer aus Oppidum Ubiorum, bevor sie sich von Caius und Fastrada verabschiedeten. Der Kahn war groß genug, um sie mit ihren Pferden überzusetzen.

Auch der Schiffer hatte schon von der Vernichtung der drei Legionen gehört, er war allerdings nicht weiter beunruhigt und schon gar nicht entsetzt. »Denkt bloß nicht, ihr seid meine allerersten Kunden«, sagte er, kaum dass sie vom Ufer abgelegt hatten. »Die Ersten waren schon vorgestern Mittag hier. Bisher sind zwar nur ein paar Dutzend Reiter aufgetaucht. Aber der Strom wird langsam dichter. Es heißt, dass die Barbaren Frauen und Kinder ziehen lassen.«

Caius war fassungslos. Es gab tatsächlich Überlebende! Er dachte an Lucius, und eine schwache Hoffnung keimte in ihm auf.

»Die Leute hier fürchten, dass die Barbaren über den Rhein kommen und alles plündern werden. Einige packen schon ihre Sachen. Ihre einzige Hoffnung sind die beiden Legionen von Mogontiacum. Es heißt, dass Lucius Nonius Asprenas mit seinen Truppen auf dem Weg ist. Die einen meinen, er soll die Grenze von der gallischen Seite aus verteidigen. Die anderen sagen, er soll gleich übersetzen und da drüben aufräumen. Mir ist alles recht, Hauptsache irgendjemand setzt über. Das wird noch mal ein gutes Geschäft. Danach geht’s ja wahrscheinlich bergab.«

Als sie endlich das andere Ufer erreichten, atmete Caius auf. Sie ritten fast eine Stunde am Fluss entlang, bis sie schließlich an der Palisade von Oppidum Ubiorum ankamen. Die Tore waren scharf bewacht, und sie mussten eine längere Befragung durch einen Centurio über sich ergehen lassen, ehe sie die Stadt betreten konnten. Caius schlug den Weg zur Herberge des Galliers ein, in der er damals mit Lucius abgestiegen war. In den Straßen der Stadt herrschte eine gedrückte Stimmung.

Nach kurzer Zeit tauchte der kleine Gasthof vor ihnen auf. Sie saßen ab, nahmen die Satteltaschen und gingen hinein. In der Stube waren nur wenige Gäste. Caius beachtete sie nicht weiter, sondern sprach gleich den Wirt an und bestellte ein Zimmer. Der Gallier winkte einen Sklaven herbei, der das Gepäck nach oben trug und ihnen die Unterkunft zeigte. Nachdem sie ihre wenigen Sachen geordnet hatten, beschloss Caius, noch einmal nach unten zu gehen, um in Erfahrung zu bringen, ob Asprenas wirklich im Anmarsch war.

Als der Wirt ihn sah, zog er die Augenbrauen hoch. »Caius Cornelius Castor?«, fragte er.

»Ja«, sagte Caius.

»Du kamst mir gleich so bekannt vor. Es ist etwas für dich abgegeben worden.« Der Wirt griff hinter sich auf einen Tisch und reichte Caius einen Dolch.

Es dauerte einen Augenblick, bis Caius begriff, dass es sein eigener war, den er hier in Oppidum Ubiorum gekauft hatte. Seine Gedanken rasten. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er den Dolch zum letzten Mal gesehen hatte und wo er ihn verloren haben mochte.

Er betrachtete ihn eine Weile. Der Griff mit der stilisierten Figur und den roten Steinen, der sanfte Schwung der Klinge. Wie in aller Welt kam sein Dolch hierher? Er blickte den Wirt fragend an. Der wies mit dem Kopf in eine Ecke der Gaststube, wo ein junger Mann saß.

Caius ging auf ihn zu. Plötzlich machte sein Herz einen Sprung. Der Gast hatte den Kopf hinuntergebeugt, als wollte er sein Gesicht verbergen, aber ein Haarwirbel verriet ihn. Mit ein paar Schritten war Caius am Tisch. Lucius sprang auf, und einen Moment später lagen sich die beiden Freunde in den Armen.

Caius konnte es kaum fassen. »Die Cherumpler haben dich nicht erwischt.«

»So kann man das nicht sagen«, gab Lucius gut gelaunt zurück. »Ich war hinter dir, als du den Huftritt abbekommen hast. Ich wollte dich noch warnen, aber da warst du schon im Land der Träume. Sah übrigens ziemlich schlimm aus, ich dachte erst, du wärst tot. Direkt danach hat es Silanus erwischt. Alles ging drunter und drüber, die Prätorianer waren so beschäftigt, Varus und die anderen aus der Schusslinie zu bringen, dass keiner mehr auf dich geachtet hat.«

Caius lachte. »Und da hast du dir natürlich erst mal den Dolch unter den Nagel gerissen.«