»Wieso?«, fragte Lucius irritiert. »Den hast du mir doch schon am Abend zuvor gegeben.«
Caius dachte kurz nach, dann fiel ihm wieder ein, wie sie am Lagerfeuer den Hahn zerteilt hatten. »Das hatte ich völlig vergessen«, murmelte er, aber Lucius war schon wieder bei seiner Geschichte.
»Ich bin zu dir hingekrochen, während sich einer der Prätorianer um Silanus gekümmert hat. Kurz darauf waren diese Barbaren auch schon mitten in der Kolonne. Irgendeiner hat mir eins über den Schädel gezogen. Ich bin später in einem Stall aufgewacht, zusammen mit einem Dutzend Legionäre. Alle gefesselt. Aber zum Glück haben mich diese Cherumpler nicht richtig durchsucht und den Dolch nicht entdeckt. Pech für sie. Wir haben uns befreit, ich und drei andere, die übrigen waren nicht ansprechbar. Mehr hätten es auch nicht sein dürfen, denn ob du es glaubst oder nicht: In diesem Stall standen noch genau vier Pferde.« Lucius hielt vier Finger in die Höhe.
»Das ist ja unglaublich«, sagte Caius.
»Allerdings. Unglaublich dumm. Kein Kompliment für Varus, dass solche Hohlköpfe es geschafft haben, ihn in die Falle zu locken. An seiner Stelle hätte ich mich auch ins Schwert gestürzt. Jedenfalls sind wir geritten, als wären alle Latrinengeister Germaniens hinter uns her.« Er grinste. »So ähnlich war es ja auch. Irgendwann in einer Nacht sind wir von ein paar Reitern aufgegriffen worden, es gab ein Handgemenge, und ich habe die anderen verloren. Und am nächsten Tag stand ich auf einmal am Rhein. Das war vorgestern. Seitdem frage ich jeden, der über den Fluss kommt, nach dir.« Lucius neigte den Kopf vor. »Und heute sitze ich hier in der Gaststube, denke zum ersten Mal seit einer Woche an gar nichts, und wer kommt zur Tür herein? Du und diese Schönheit. Ist dir eigentlich klar, dass du wahrscheinlich der Einzige aus dem ganzen Heer bist, der Beute gemacht hat, obwohl wir die Schlacht verloren haben? Wo ist sie überhaupt?«
»Oben. Sie passt auf etwas auf, das ich nicht allein im Zimmer lassen möchte«, sagte Caius. Die diebische Freude über den ungläubigen Gesichtsausdruck seines Freundes ließ ihn fast platzen.
»Nein«, flüsterte Lucius mit offenem Mund.
»Doch.«
»Das vergiftete Geschenk des Schicksals.«
»Von Varus persönlich ausgehändigt. In einem Kasten aus Zedernholz.«
Lucius packte Caius am Hals, als wollte er ihn würgen. »Was ist es?«
»Komm mit und schau es dir selbst an.« Grinsend stand Caius auf.
EPILOG
Nach fast vier Wochen Fahrt in einem Reisewagen, den der Legat Lucius Nonius Asprenas ihnen mit Eskorte zur Verfügung gestellt hatte, kam am Horizont endlich die Stadt in Sicht. Caius, Lucius und Fastrada waren ausgestiegen, um sich ein letztes Mal die Beine zu vertreten.
Der Weg wurde von Hügeln gesäumt, aus deren Hängen hier und da steile Felsvorsprünge ragten wie riesige Erker. In den Stein waren zahlreiche Höhlen gegraben, die geheimnisvollen Völkern in grauer Vorzeit als Grabstätten gedient hatten und jetzt zum Lagern von Wein und Lebensmitteln verwendet wurden. Die mit passgenau bearbeiteten Basaltplatten gepflasterte Straße führte an einem kleinen Bach entlang, der leise vor sich hin plätscherte. Längst war es Oktober geworden, doch die Sonne schien noch immer heiß vom wolkenlosen Himmel.
Caius ging ein paar Schritte bis zu einer Kreuzung, an der eine Statue des Princeps stand. Sie war von einer frommen Vereinigung gestiftet worden, wie die Inschrift auf dem Sockel verriet. Augustus war nicht wie bei den meisten Darstellungen im Prachtharnisch als Feldherr abgebildet worden, sondern als Priester. Den Saum der Toga hatte er sich über den Hinterkopf gezogen, und in der aus dem Faltenmeer ragenden rechten Hand hielt er eine Opferschale.
Fastrada trat von hinten an Caius heran und umschlang ihn mit den Armen. »Wer ist das?«, fragte sie.
»Präg dir das Gesicht gut ein«, erwiderte Caius. »Wir sind heute Abend bei ihm zu Gast.«
NACHWORT
Was unserem Helden Caius in diesem Roman gelungen ist, schafften in Wahrheit nur wenige der Legionäre, Offiziere, Hilfssoldaten, Trossleute, Frauen und Kinder, die im September des Jahres 9 n. Chr. in den von Arminius gelegten Hinterhalt gerieten. Wie viele Menschenleben das Gemetzel tatsächlich gekostet hat, wird sich nie genau feststellen lassen; die Zahl bewegt sich irgendwo in einer Größenordnung von zwanzigtausend Menschen – zwanzigtausend Schicksale, denen unter anderen Umständen vielleicht wirklich ein friedlicher Lebensabend auf Bauernhöfen in Umbrien und Landhäusern in Campanien vergönnt gewesen wäre.
Abgesehen von ihrer Bedeutung für die Geschichte des römischen Imperiums und der germanischen Stämme, aus denen im Lauf der Jahrhunderte die Deutschen wurden, ist die Varusschlacht auch eine gewaltige menschliche Tragödie. Zwanzigtausend Familien weinten um ihre Angehörigen. Die Soldaten, die dem Blutbad entkommen waren, durften Italien nicht mehr betreten. Und die Legionen XVII, XVIII und XIX wurden nie wieder aufgestellt.
Während sich die Sieger über die Beute hermachten, die Toten plünderten und die Adler der drei untergegangenen Legionen unter sich aufteilten, eilten zwei Boten über das Land. Der erste ritt im Auftrag von Arminius durch die unwegsamen Wälder Germaniens bis zur Residenz des Markomannenfürsten Marbod. Im Gepäck hatte er den Kopf des Statthalters Varus als makaberes Bündnisangebot des Cheruskerführers an Marbod. Der aber verweigerte sich und schickte die schaurige Trophäe weiter nach Rom. Dort dürfte zu diesem Zeitpunkt bereits der andere Bote angekommen sein, der Augustus die Nachricht von der Niederlage überbracht hatte. Wie berichtet wird, schlug der Kaiser, der in diesen Tagen seinen einundsiebzigsten Geburtstag beging, mit dem Kopf gegen die Wand und schrie den toten Varus an, ihm die Legionen zurückzugeben. Die Angehörigen dieser Legionen lagen derweil mehr als tausend römische Meilen weiter nördlich geschändet und ausgeplündert über ein kilometerlanges Schlachtfeld verstreut. Es muss ein gespenstischer Anblick gewesen sein.
Nachdem Rom sich vom ersten Schock erholt hatte, wurde die Militärmaschine unverzüglich wieder angeworfen, um den Germanen zu zeigen, dass das Imperium nichts vergaß und nichts vergab. Wieder überquerten römische Legionen den Rhein, wieder wurden Landstriche verwüstet und Menschen verschleppt und ermordet. Sechs Jahre nach der Katastrophe, Augustus war inzwischen gestorben und von Tiberius beerbt worden, besuchte der römische Feldherr Germanicus das Schlachtfeld und ließ die verwesten und von Tieren abgenagten Skelette bestatten. Im Jahr darauf wurde er abberufen, vielleicht weil Tiberius ihm den Erfolg missgönnte – offiziell hieß es, der neue Kaiser habe beschlossen, die Germanen ihren eigenen Streitigkeiten zu überlassen. Genau solchen Streitigkeiten fiel Arminius einige Jahre später selbst zum Opfer, wahrscheinlich wurde er von einem seiner eigenen Verwandten ermordet. Sein Traum von einer gesamtgermanischen Stammesallianz unter seiner Führung war damit ebenso ausgeträumt wie Roms Traum von einer Provinz Germania, die bis zur Elbe reichte. Immerhin tauchten die drei verlorenen Legionsadler einer nach dem anderen bei den Stämmen wieder auf, die sie einst als Kriegsbeute von Arminius erhalten hatten. Sie kehrten als Symbole der Beharrlichkeit nach Rom zurück. Symbole der Unbesiegbarkeit waren sie nicht mehr.
Was in diesen dramatischen Septembertagen des Jahres 9 n. Chr. wirklich passierte, wo es passierte ist und wie es dazu gekommen war, darüber streiten sich die Gelehrten seit Generationen. Die erhaltenen römischen Schriftquellen sind ziemlich wortkarg, sodass neue Erkenntnisse vor allem von den Archäologen zu erwarten sind. Wissenschaftler sind seit geraumer Zeit dabei, das Schlachtgeschehen aus den Bruchstücken zusammensetzen, die der Boden zufällig oder nach gezielter Suche herausrückt: Münzen, Pfeilspitzen, Tonscherben, Spuren von Lagergräben, Abfallgruben, Nägel von Legionärssandalen, Knochen von Menschen und Tieren. Trotz zahlloser Funde ist das Schlachtgeschehen noch sehr unzureichend rekonstruiert.