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»Ich fürchte, Ballistik schlägt nicht in mein Fach«, antwortete Smiley nach einer weiteren Denkpause.

»Nein, hab ich eigentlich auch nicht angenommen. Genug gese­hen, Sir?«

Hatte Smiley offenbar nicht.

»Die meisten Leute erwarten allen Ernstes einen Brustschuß, nicht wahr, Sir?« bemerkte der Superintendent geistreich. Er hatte gelernt, daß harmloses Geplauder bei derartigen Gelegen­heiten manchmal die Atmosphäre auflockere. »Ein Kügelchen, das ein schmuckes Loch bohrt. Das erwarten die meisten. Opfer sinkt sacht in die Knie zum Klang himmlischer Chöre. Kommt wahrscheinlich vom Fernsehen. Während eine echte Kugel ei­nem heutzutage einen Arm oder ein Bein abreißen kann, wie mir meine Freunde in Braun berichten.« Seine Stimme nahm einen sachlicheren Ton an. »Hatte er denn einen Schnurrbart, Sir? Mein Sergeant bildet sich ein, die Spur weißer Haare über der Oberlippe entdeckt zu haben.«

»Einen militärischen«, sagte Smiley nach einer langen Pause, und zeichnete mit Daumen und Zeigefinger die Form auf seiner eige­nen Lippe nach, während sein Blick nicht von der Leiche des al­ten Mannes wich. »Ob ich wohl den Inhalt seiner Taschen prü­fen könnte, Superintendent?«

»Sergeant Pike.«

»Sir!«

»Decken Sie ihn wieder zu und sagen Sie Mr. Murgotroyd, er soll im Kastenwagen den Tascheninhalt für mich bereithalten, das heißt, das, was sie davon übrig gelassen haben. Beeilung«, fügte der Superintendent gewohnheitsmäßig hinzu.

»Sir!«

»Und hören Sie.« Der Superintendent hatte den Sergeant sanft am Oberarm genommen. »Sagen Sie diesem jungen Constable Hall, daß ich ihm nicht verbieten kann, sich zu übergeben, aber ich verbitte mir seine blasphemische Redeweise.« Denn der Su­perintendent war im Privatleben ein praktizierender Christ und machte kein Hehl daraus. »Hier lang, Mr. Smiley, Sir«, fügte er, wieder zu seinem freundlicheren Ton zurückfindend, hinzu. Als sie ein Stück die Allee hinaufgingen, verlor sich allmählich das Geschnatter aus den Funkgeräten, und sie hörten statt dessen den ärgerlichen Flügelschlag von Krähen und das Grollen der Stadt. Der Superintendent schritt scharf aus, wobei er sich links von der abgesperrten Fläche hielt. Smiley zappelte hinter ihm her. Ein fensterloser Kastenwagen parkte zwischen den Bäu­men, die hintere Tür war offen, und im Inneren brannte ein schwaches Licht. Sie stiegen ein und setzten sich auf harte Bänke. Mr. Murgotroyd hatte graues Haar und trug einen grauen An­zug. Er kauerte vor ihnen, mit einem Plastiksack in der Hand, der wie ein durchsichtiger Kopfkissenbezug aussah. Der Sack war oben zugeschnürt, und er löste den Knoten. Darinnen schwammen kleinere Beutel. Mr. Murgotroyd fischte sie nach­einander heraus, und der Superintendent las im Licht seiner Handlampe die Aufschriften, ehe er die Beutel an Smiley zur Be­gutachtung weiterreichte.

»Eine abgegriffene Lederbörse kontinentaler Machart. Zur Hälfte in der Tasche, zur Hälfte draußen, Jacke, links. Sie haben die Münzen bei der Leiche gesehen - zweiundsiebzig Pence. Das war alles an Geld, was er bei sich hatte. Hat er gewöhnlich eine Brieftasche getragen, Sir?«

»Keine Ahnung.«

»Wir vermuten, daß sie die Brieftasche kassierten, sich an die Börse machten und dann davonliefen. Ein Bund Schlüssel, Haus und sonstige, Hose, rechts . . .«Er fuhr fort, doch Smileys forschende Aufmerksamkeit ließ nicht nach. Manche Leute tun so, als hätten sie ein gutes Gedächtnis, sagte sich der Superinten­dent, dem Smileys Konzentrationsvermögen nicht entging, manche haben eins. Nach der Einschätzung des Superintenden­ten war ein gutes Gedächtnis die bessere Hälfte der Intelligenz, er stellte es über alle anderen geistigen Fähigkeiten; und Smiley, das wußte er, besaß eins. »Ein Benutzerausweis der Stadtbüche­rei von Paddington, ausgestellt auf den Namen W. Miller, eine Schachtel Swan Vesta Streichhölzer, angebrochen, Mantel links. Eine Aufenthaltsgenehmigung für Ausländer, Nummer wie an­gegeben, ebenfalls auf den Namen Wladimir Miller. Ein Fläsch­chen Tabletten, Mantel links. Wofür waren die Tabletten, Sir, irgendeine Vermutung? Marke Sustac, was immer das sein mag, zwei bis dreimal täglich einzunehmen?«

»Herz«, sagte Smiley.

»Und eine Quittung über dreizehn Pfund vom Mini-Taxi-Dienst Schnell und Sicher, Islington, Nord 1.«

»Kann ich sehen?« sagte Smiley, und der Superintendent hielt die Quittung so, daß er das Datum und die Unterschrift des Fahrers lesen konnte, J. Lamb in Schönschrift mit einem wilden Schnör­kel darunter.

Die nächste Tüte enthielt ein Stück Tafelkreide, gelb und wun­derbarerweise unzerbrochen. Das zugespitzte Ende war wie von einem einzigen Strich braun gefärbt, doch das dicke Ende war unbenutzt.

»Gelbe Kreidespur auch an linker Hand«, ließ Mr. Murgotroyd sich zum erstenmal vernehmen. Seine Gesichtshaut war grau wie Stein. Auch seine Stimme war grau und traurig wie die eines Lei­chenbestatters. »Wir haben uns gefragt, ob er wohl im Lehrberuf tätig war«, fügte Mr. Murgotroyd hinzu, doch Smiley ging ab­sichtlich oder versehentlich nicht darauf ein, und der Superin­tendent ließ es dabei bewenden.

Und ein zweites Taschentuch, Baumwolle, diesmal von Mr. Murgotroyd vorgewiesen, teils blutig, teils sauber und sorgfältig zu einem scharfen Dreieck für die Brusttasche gebügelt.

»Wahrscheinlich auf dem Weg zu einer Party, haben wir uns überlegt«, sagte Mr. Murgotroyd, diesmal ohne jede Hoffnung. »Crime and Ops über Funk, Sir«, rief eine Stimme aus dem Vor­derteil des Wagens.

Wortlos verschwand der Superintendent in die Dunkelheit und ließ Smiley unter dem deprimierten Blick Mr. Murgotroyds zu­rück.

»Sind Sie irgendein Experte, Sir?« fragte Mr.  Murgotroyd, nachdem er seinen Gast lange und düster gemustert hatte. »Nein. Nein, leider nicht«, sagte Smiley.

»Innenministerium, Sir?«

»Tut mir leid, auch nicht Innenministerium«, sagte Smiley leicht kopfschüttelnd, als teile er Mr. Murgotroyds Ratlosigkeit.

»Meine Vorgesetzten machen sich ein bißchen Sorge wegen der Presse, Mr. Smiley«, sagte der Superintendent, als er den Kopf wieder in den Wagen steckte. »Scheinen schon hierher unter­wegs zu sein, Sir.«

Smiley kletterte hastig hinaus. Die beiden Männer standen ein­ander in der Allee gegenüber.

»Sie waren sehr freundlich«, sagte Smiley. »Vielen Dank.«

»Keine Ursache«, sagte der Superintendent.

»Sie erinnern sich nicht zufällig, in welcher Tasche die Kreide war, oder?« fragte Smiley.

»Mantel, links«, antwortete der Superintendent leicht über­rascht.

»Und die Durchsuchung - könnten Sie mir nochmals Ihre ge­naue Ansicht darüber geben?«

»Entweder, sie hatten keine Zeit mehr, ihn umzudrehen, oder es lag ihnen nichts daran. Knieten neben ihm nieder, angelten nach der Brieftasche, wollten an seine Börse. Verstreuten dabei ein paar Dinge. Hatten dann genug.«

»Vielen Dank«, sagte Smiley wieder.

Und einen Augenblick später war er mit einer Behendigkeit, die man ihm bei seiner Korpulenz nicht zugetraut hätte, zwischen den Bäumen verschwunden. Jedoch nicht, ehe der Superintendent, unter Hintanstellung der bis dahin geübten Diskretion, den Strahl seiner Handlampe voll auf Smileys Gesicht gerichtet und einen intensiven geschulten Blick auf die legendären Züge getan hatte, und sei es nur, um später einmal, als Greis, seinen Enkelkindern erzählen zu können: wie George Smiley, einst Chef des Geheimdienstes und damals im Ruhestand, eines nachts aus dem Nebel auftauchte, um einen toten Ausländer zu beäugen, der unter höchst unerfreulichen Umständen ums Le­ben gekommen war.