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Nicht eigentlich ein Gesicht, überlegte der Superintendent. Nicht, wenn es so von unten mit einer Stablampe indirekt ange­leuchtet wurde. Eher eine ganze Reihe von Gesichtern. Eher ein Patchwork aus verschiedenen Altern, Leuten und Mühen. So­gar, dachte der Superintendent, aus verschiedenen Glaubensbe­kenntnissen.

»Der Beste, den ich je gekannt habe«, hatte der alte Mendel, sein Vorgänger im Amt, dem Superintendent unlängst bei einem freundschaftlichen Glas Bier anvertraut. Mendel war jetzt pen­sioniert, wie Smiley. Aber Mendel wußte, wovon er sprach, und er mochte die Circus-Clowns ebensowenig wie der Superinten­dent - Amateurfatzken, die einem dazwischenpfuschten, und meist noch dazu krumme Hunde. Nicht so Smiley. Smiley war anders, hatte Mendel gesagt. Smiley war der Beste - ganz einfach der beste Fall-Bearbeiter, den Mendel je gekannt hatte, und der alte Mendel wußte, wovon er sprach.

Eine Abtei, entschied der Superintendent. Genau das war er, eine Abtei. Er würde das bei nächster Gelegenheit in seine Pre­digt einarbeiten. Eine Abtei, zusammengesetzt aus allen mögli­chen einander widersprechenden Altern, Stilen und Überzeu­gungen. Der Superintendent fand an dieser Metapher immer mehr Gefallen, je länger er bei ihr verweilte. Er würde sie, sobald er nach Hause kam, zunächst an seiner Frau ausprobieren: der Mensch als Architektur Gottes, meine Liebe, geprägt von der Hand der Zeiten, unendlich in seinem Streben und in seiner Viel­falt . . . Doch hier legte der Superintendent seiner rhetorischen Phantasie Zügel an. Vielleicht doch nicht, dachte er. Vielleicht schießen wir ein bißchen über das Ziel hinaus, mein Freund. Da war noch etwas an diesem Gesicht, was der Superintendent nicht so leicht vergessen würde. Später sprach er mit dem alten Mendel darüber, wie über so viele andere Dinge. Die Feuchtig­keit. Er hatte sie zuerst für Tau gehalten - doch sollte es Tau sein, wieso war dann das Gesicht des Superintendent strohtrocken? Es war nicht Tau, und es war auch nicht Schmerz, wenn seine Ahnung zutraf. Es war etwas, was den Superintendent gelegent­lich selber ankam, und auch die Jungens, sogar die härtesten; es übermannte sie, und der Superintendent hielt danach Ausschau wie ein Falke. Gewöhnlich bei Kinderfällen, wo einem die Wi­dersinnigkeit durch Mark und Knochen ging - Kindesmißhand­lungen, Kindesentführungen, Kindermorde. Man brach nicht zusammen noch raufte man sich das Haar oder was dergleichen Theater mehr war. Man legte nur wie von ungefähr die Hand ans Gesicht und fand es feucht und fragte sich, wofür zum Teufel Christus eigentlich gestorben sei, falls ER überhaupt jemals ge­storben war.

Und wenn man in dieser Stimmung war, sagte sich der Superin­tendent leicht schaudernd, dann nahm man am besten ein paar Tage Urlaub und fuhr mit seiner Frau nach Margate, sonst sprang man, ehe man recht wußte, wie es kam, mit den Leuten ein bißchen rauher um, als einem selber bekömmlich war.

»Sergeant!« brüllte der Superintendent.

Das bärtige Gesicht tauchte vor ihm auf.

»Scheinwerfer an und alles auf Normal bringen«, befahl der Su­perintendent. »Und sagen Sie Inspector Hallowes, er soll gefäl­ligst hier antanzen und sich nützlich machen. Beeilung.«

4

Sie hatten die Kette an der Tür ausgehakt, um ihn einzulassen, und Fragen gestellt, noch ehe sie ihm den Mantel abnahmen: präzis und konzentriert. Wurde bei dem Toten irgendwelches kom­promittierendes Material gefunden, George? Aus dem seine Ver­bindung zu uns hervorgeht? Mein Gott, haben Sie lange ge­braucht! Sie hatten ihm gezeigt, wo er sich die Hände waschen könne und völlig vergessen, daß er mit den Örtlichkeiten vertraut war. Sie hatten ihn in einen Ledersessel bugsiert, und dort saß Smiley nun, bescheiden und unbeachtet, während Oliver Lacon, Whitehalls Obermacher in nachrichtendienstlichen Fragen, auf dem abgetretenen Teppich hin- und hertigerte, wie ein Mann, dem sein Gewissen keine Ruhe läßt, und Lauder Strickland über das alte Standtelefon in der entfernten Ecke des Zimmers alles auf fünfzehn verschiedene Arten zu fünfzehn verschiedenen Leuten nochmals sagte - »Dann geben Sie mich zurück zur Polizeiver­bindungsstelle, Weib, und zwar sofort« - entweder bellend oder säuselnd, je nach Rang und Einfluß. Der Superintendent lag ein Leben zurück, doch zeitlich nur zehn Minuten. Die Wohnung roch nach alten Windeln und abgestandenem Zigarettenrauch und lag im obersten Stockwerk eines im überladenen spätvikto­rianischen Stil erbauten Apartmenthauses, keine zweihundert Yards von Hampstead Heath. In Smileys Denken vermischten sich Visionen von Wladimirs zerschossenem Gesicht mit den blei­chen Gesichtern der Lebenden, doch der Tod war kein überra­schender Schlag für ihn, er bestätigte ihm nur, daß seine eigenen Tage dahinschwanden, daß er auf Abruf lebte. Er saß erwartungs­los da. Er saß da, wie ein alter Mann auf einem Dorfbahnhof, der zusieht, wie die Schnellzüge durchbrausen. Aber nichtsdestowe­niger zusieht. Und sich an alte Fahrten erinnert.

So geht es immer bei Krisen, dachte er; zielloses Durcheinander­gerede. Ein Mann am Telefon, ein anderer tot und ein Dritter auf und ab gehend. Nervöse Müdigkeit in Zeitlupe.

Er blickte um sich, versuchte, seine Gedanken auf den Verfall außerhalb seiner Person zu konzentrieren. Vergammelte Feuer­löscher, Stiftung des Arbeitsministeriums. Braune Sofas mit kratzigem Bezug, etwas fleckiger als damals. Doch im Gegensatz zu alten Generälen sterben sichere Wohnungen nie, dachte er. Sie schwinden nicht einmal dahin.

Auf dem Tisch vor ihm warteten die dürftigen Attribute der Agenten-Gastlichkeit, bereitgestellt zur Belebung des unbeleb­baren Gastes. Smiley machte Bestandsaufnahme. In einem Kü­bel mit geschmolzenem Eis eine Flasche Stolochnaya-Wodka, Wladimirs aktenkundige Lieblingsmarke. Salzheringe, noch in der Dose. Essiggurken, lose gekauft und schon am Austrocknen. Ein obligatorischer Laib Schwarzbrot. Wie jedem Russen, den Smiley je gekannt hatte, war es Wladimir kaum möglich gewe­sen, seinen Wodka ohne diese Beigabe zu trinken. Zwei Wodka­gläser von Marks & Spencer, könnten sauberer sein. Ein Päck­chen russischer Zigaretten, ungeöffnet: Wäre er gekommen, er hätte sie aufgeraucht, er hatte keine Zigaretten bei sich gehabt, als er starb.

Wladimir hatte keine bei sich, als er starb, wiederholte er für sich und machte sich einen Knoten ins Gedächtnis.

Ein Scheppern riß Smiley aus seinen Gedanken. Der junge Mo­styn hatte in der Küche einen Teller fallen lassen. Lauder Strick­land wirbelte am Telefon herum und erbat sich Ruhe. Doch die war inzwischen schon wieder eingetreten. Was machte Mostyn eigentlich? Abendessen? Frühstück? Buk er Aniskuchen für den Leichenschmaus? Und was war Mostyn? Wer war Mostyn? Smi­ley hatte seine feuchte und zitternde Hand geschüttelt und au­genblicklich vergessen, wie er aussah, erinnerte sich nur, daß er blutjung war und ihm doch aus irgendeinem Grund vertraut, wenn auch nur als Typus. Mostyn ist ein Stück Malheur, ent­schied Smiley kategorisch.

Lacon blieb mitten in seinem Herumwandern abrupt stehen. »George! Sie sehen sorgenvoll aus. Nicht doch. Wir haben alle ein reines Gewissen in dieser Sache, jeder von uns!«

»Ich sorge mich nicht, Oliver.«

»Sie sehen aus, als machten Sie sich Vorwürfe. Ich kenne Sie!«

»Wenn Agenten sterben -« sagte Smiley, ließ aber den Satz in der Luft hängen, und Lacon konnte das Ende ohnehin nicht abwar­ten. Er hatte sich wieder in Marsch gesetzt, wie ein Wanders­mann, der noch Meilen vor sich hat. Lacon, Strickland, Mostyn, dachte Smiley, als Stricklands schottisch gefärbtes Stakkato er­neut einsetzte. Ein Regierungsfaktotum, ein Circus-Intrigant und ein verschreckter Junge. Warum keine echten Leute? Warum nicht Wladimirs Einsatzleiter, wer immer es sei? Warum nicht Saul Enderby, ihr Chef?