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Ein Vers von Auden kam ihm in den Sinn, aus den Tagen, als er Mostyns Alter hatte: Ehren wir, so wir können, den senkrechten Mann, wenn wir auch nur den waagrechten schätzen. Oder so ähnlich.

Und warum Smiley? dachte er. Warum ausgerechnet ich? Ein Mann, der für sie töter ist als der alte Wladimir?

»Möchten Sie Tee, Mr. Smiley, oder lieber etwas Stärkeres?« rief Mostyn durch die offene Küchentür. Smiley fragte sich, ob der junge Mensch wohl von Natur aus so blaß war.

»Er möchte nur Tee, danke schön, Mostyn«, bellte Lacon und drehte sich scharf auf dem Absatz um. »Nach einem Schock nichts wie Tee. Mit Zucker, ja, George? Zucker gleicht Energie­schwund aus. War esgrausig, George? Wie gräßlich für Sie.«

Nein, es war nicht gräßlich, es war die Wahrheit, dachte Smiley. Er wurde erschossen, und ich habe ihn tot gesehen. Vielleicht solltet ihr das auch tun.

Lacon konnte Smiley anscheinend nicht in Ruhe lassen, er war quer durch das Zimmer zurückgekommen und schaute ihn mit aufmerksamen, verständnislosen Augen an. Er war ein fader Mensch, hektisch, aber ohne Schwung, mit grausam gealterten jugendlichen Zügen und einem häßlichen entzündeten Ausschlag rings um den Hals, wo das Hemd die Haut wundgescheu­ert hatte. In dem Kirchenlicht zwischen Dämmerung und Mor­gen schimmerte seine schwarze Weste und sein weißer Kragen wie eine Soutane.

»Ich habe Sie kaum begrüßt«, klagte Lacon, als sei dies Smileys Schuld. »George. Alter Freund. Mein Gott.«

»Hallo, Oliver«, sagte Smiley.

Doch Lacon blieb bei ihm stehen und sah auf ihn hinunter, den langen Kopf auf die Seite gelegt, wie ein Kind, das einen Käfer betrachtet. In Smileys Geist spulte Lacons Telefonanruf von vor zwei Stunden nochmals ab.

Es ist ein Notfall, George. Erinnern Sie sich an Wladimir? George, sind Sie wach? Erinnern Sie sich an den alten General, George? Der lange in Paris gelebt hat?

Ja, ich erinnere mich an den General, hatte er geantwortet. Ja, Oliver, ich erinnere mich an Wladimir.

Wir brauchen jemanden aus seiner Vergangenheit, George. Je­manden, der seine Lebensgewohnheiten kannte, der ihn identifi­zieren, einen möglichen Skandal abbiegen kann. Wir brauchen Sie, George. Jetzt. George, wachen Sie auf.

Er hatte es versucht. So, wie er versucht hatte, den Hörer zu sei­nem besseren Ohr hinüberzuwechseln und sich in einem Bett aufzusetzen, das zu breit für ihn war. Er strampelte sich über den kalten Platz, den seine Frau leer gelassen hatte, denn das Telefon stand auf ihrem Nachttisch.

Er wurde angeschossen, sagen Sie? hatte Smiley wiederholt. George, warum können Sie nicht zuhören? Totgeschossen. Heute abend. George, um Himmels willen, wachen Sie auf, wir brau­chen Sie!

Lacon marschierte wieder los und drehte dabei an seinem Siegel­ring, als sei er ihm zu eng. Ich brauche dich, dachte Smiley, als er ihm zusah, wie er seine Kreise zog. Ich liebe dich, ich hasse dich, ich brauche dich. Diese apokalyptischen Verlautbarungen erin­nerten ihn an Ann, wenn ihr das Geld oder die Liebe ausgegan­gen waren. Das Herz des Satzes ist das Subjekt, dachte er. Nicht das Verbum und schon gar nicht das Objekt. Das Herz ist das Ich, das sein Teil fordert.

Mich brauchen, wozu? dachte er wieder. Um sie zu trösten? Ih­nen die Absolution zu erteilen? Was haben sie getan, daß sie meine Vergangenheit brauchen, um ihre Zukunft wieder ins Lot zu bringen?

Im Hintergrund des Zimmers hielt Lauder Strickland wie ein Fa­schist auf einer Rednertribüne einen Arm hoch, während er sich an die Obrigkeit wandte.

»Ja, Chef, er ist zur Zeit bei uns, Sir ... Ich werd's bestellen, Sir ... Gewiß, Sir ... Ich werde es ihm ausrichten ... Ja, Sir ...« Warum fühlen die Schotten sich von der Geheimwelt so angezogen? Smiley dachte nicht zum erstenmal in seiner Karriere darüber nach. Schiffsingenieure, Kolonialbeamte, Spione . . . Ihre häretische schottische Geschichte zog sie zu fernen Kir­chen. »George!« Strickland rief Smileys Namen, plötzlich lau­ter, wie einen Befehl. »Sir Saul läßt Sie persönlich aufs herzlich­ste grüßen, George!« Er war herumgewirbelt, noch immer mit erhobenem Arm. »In einem ruhigeren Augenblick wird er Ihnen seine Dankbarkeit passender ausdrücken.« Wieder ins Telefon: »Ja, Chef, Oliver Lacon ist auch hier bei uns, und sein Gegen­stück im Innenministerium konferiert gerade mit dem Commis­sioner of Police betreffs unseres einstigen Interesses an dem To­ten und der Vorbereitung einer Presseverlautbarung.«

Einstiges Interesse, registrierte Smiley. Ein einstiges Interesse mit weggeschossenem Gesicht und keinen Zigaretten in der Ta­sche. Gelbe Kreide. Smiley unterzog Strickland einer offenen Musterung: den scheußlichen grünen Anzug, die zum Wildle­der-Look aufgerauhten schweinsledernen Schuhe. Die einzige Veränderung, die er an ihm feststellen konnte, war ein rotbrau­ner Schnurrbart, nicht halb so militärisch wie Wladimirs Bart gewesen war, als er noch einen hatte.

»Jawohl, Sir, >ein erloschener Fall, von historischen Belangs Sir,« schnurrte Strickland weiter ins Telefon. Erloschen stimmt, dachte Smiley. Erloschen, verloschen, ausgelöscht. »Haargenau die richtige Terminologie«, fuhr Strickland fort. »Und Oliver Lacon schlägt vor, es so Wort für Wort in die Pressenotiz aufzu­nehmen. Liege ich da richtig, Oliver?«

»Rein historisch«, korrigierte Lacon ihn gereizt. »Nicht von hi­storischem Belang. Das fehlte uns gerade noch! Rein historisch.« Er durchquerte das Zimmer, offensichtlich, um durch das Fen­ster auf den kommenden Tag zu schauen.

»Enderby hatimmer noch das Sagen, wie, Oliver?« fragte Smiley den ihm zugewandten Rücken Lacons.

»Ja. Ja, immer noch Saul Enderby, Ihr alter Gegenspieler, und er tut Wunder«, gab Lacon ungeduldig zurück. Er zog so heftig an der Gardine, daß sie aus der Gleitschiene sprang. »Nicht Ihr Stil, zugegeben, aber warum auch? Überzeugter Atlantiker.« Er ver­suchte, den Fensterflügel mit Gewalt zu öffnen. »Man hat's nicht leicht unter einer derartigen Regierung, das kann ich Ihnen sa­gen.« Er versetzte dem Griff einen weiteren heftigen Stoß. Ein eisiger Luftzug strich um Smileys Knie. »Halten einen ganz schön auf Trab. Mostyn, wo bleibt der Tee. Wir warten schon eine Ewigkeit darauf.«

Unser ganzes Leben lang, dachte Smiley. Durch das Gekeuche ei­nes bergauf fahrenden Lasters hörte er wieder Strickland, dessen Gespräch mit Saul Enderby sich hinzog. »Ich meine, wir dürfen ihn bei der Presse nicht zu weit herunterspielen, Chef. Dumm stellen ist alles, in einem derartigen Fall. Auch der Einstieg über das Privatleben ist hier gefährlich. Was wir brauchen, ist ein abso­luter Mangel an Gegenwartsbezug. Wie wahr, wie wahr, ganz richtig, Chef-« Und weiter dröhnte er in alerter Speichelleckerei. »Oliver-« begann Smiley, der die Geduld verlor. »Oliver, hät­ten Sie etwas dagegen, mir -«

Doch Lacon wollte reden, nicht zuhören. »Wie geht's Ann?« fragte er vage herüber und lehnte die Unterarme aufs Fenster­brett. »Hoffentlich hübsch zu Hause und so weiter, streunt nicht, oder? Mein Gott, ich hasse den Herbst.«

»Gut, danke. Wie geht's -« Er versuchte vergebens, sich an den Vornamen von Lacons Frau zu erinnern.

»Auf und davon, verdammich. Durchgebrannt mit ihrem windi­gen Reitlehrer, hol sie der Teufel. Hat mich mit den Kindern sit­zen lassen. Die Mädchen sind Gott sei Dank in Internaten unter­gebracht.« Er stützte sich auf die Hände und starrte in den heller werdenden Himmel. »Ist das, was da droben wie ein Golfball zwischen den Kaminhauben steckt, der Orion?« fragte er.

Womit wir einen weiteren Todesfall hätten, dachte Smiley trau­rig, und ließ seinen Geist kurz bei Lacons zerbrochener Ehe verweilen. Er erinnerte sich an eine hübsche weltfremde Frau und eine Meute von Töchtern, die sich im Garten des unüber­sichtlichen Hauses in Ascot auf Ponys tummelten.