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Wenn wir ihn besser behandelt hätten, wäre es nie passiert, dachte Smiley. Vernachlässigte werden zu leicht umgebracht, dachte er und stellte damit, ohne es zu wissen, eine Parallele zu der Ostrakowa her. Er erinnerte sich an den Tag, als sie ihn hier­her gebracht hatten, Smiley, der Vikar und Esterhase, der Postbote. Sie waren nach Heathrow gefahren, um ihn abzuholen: Toby, der mit allen Wassern gewaschene Kanalarbeiter, wie er sich selbst nannte. Obwohl Toby fuhr wie der Teufel, wären sie damals beinah zu spät gekommen. Das Flugzeug war bereits ge­landet. Sie hasteten zur Zollabfertigung, und da stand er: silber­haarig und majestätisch, reglos wie ein Turm im Getümmel der gewöhnlichen Sterblichen, die auf dem Weg von der Landungs­halle an ihm vorbeiströmten. Er erinnerte sich an ihre feierliche Umarmung - »Max, alter Freund, sind Sie's wirklich?« »Ja, Wladimir, ich bin's wirklich, man hat uns wieder zusammenge­spannt.« Er erinnerte sich, wie Toby Esterhase sie durch die Hintertüren der Einwanderungskontrolle schmuggelte, da die wütende französische Polizei dem alten Knaben, ehe sie ihn hin­auswarf, die Papiere abgenommen hatte. Er erinnerte sich an das Mittagessen selbdritt bei Scott's, als der alte Knabe in seiner Eu­phorie sogar aufs Trinken vergessen und mit Grandezza von ei­ner Zukunft gesprochen hatte, die, wie sie alle wußten, hinter ihm lag. »Es wird wieder genauso sein, wie in Moskau, Max. Vielleicht schnappen wir uns sogar den Sandmann.« Am näch­sten Tag gingen sie auf Wohnungssuche. »Nur um Ihnen ein paar Möglichkeiten zu zeigen, General«, wie Toby Esterhase erklärt hatte. Es war um die Weihnachtszeit, und der Übersiedelungs-­Etat für das laufende Jahr war aufgebraucht. Smiley hatte sich an die Finanzabteilung gewandt; Lacon und das Schatzamt um ei­nen Nachtragshaushalt bekniet, jedoch ohne Erfolg. »Ein Schuß Realität wird ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zurück­bringen«, hatte Lacon entschieden. »Machen Sie Ihren Einfluß auf ihn geltend, George. Dafür haben wir Sie wieder eingesetzt.« Der erste Schuß Realität war ein Nuttenbunker in Kensington gewesen, der zweite ging auf einen Rangierbahnhof bei der Wa­terloo-Station hinaus. Westbourne Terrace war der dritte, und als sie, mit Toby an der Spitze, dieselbe Treppe hinaufquietsch­ten, die Smiley jetzt erklomm, war der alte Mann plötzlich ste­hengeblieben, hatte den großen gesprenkelten Kopf zurückge­worfen und theatralisch die Nüstern gebläht.

Ab! Wenn ich Hunger kriege, brauche ich nur auf den Korridor hinausgehen und schnuppern, und schon bin ich satt! hatte er in seinem harten Französisch verkündet. So kann ich's eine ganze Woche ohne Essen aushalten!

Jetzt war es selbst Wladimir aufgegangen, daß man ihn endgültig abhalftern wollte.

Smiley kehrte wieder in die Gegenwart zurück. Auf dem näch­sten Podest beherrschte, wie er bei seinem einsamen Aufstieg feststellte, die Musik das Feld. Durch eine Tür kamen in voller Lautstärke Rockrhythmen, durch die andere Sibelius und der Geruch von gebratenem Speck. Als er durchs Treppenfenster lugte, sah er zwischen den Kastanien zwei Männer herumlun­gern, die bei seiner Ankunft noch nicht dagewesen waren. So würde ein Team vorgehen, dachte er. Ein Team würde Späher aufstellen, während die anderen ins Haus gingen. Ein Team, das fürwen arbeitete? Für Moskau? Für die Polizei? Für Saul Ender­by ? Weiter unten auf der Straße hatte der große Motorradfahrer eine kleinformatige Zeitung gekauft, die er nun im Sattel sitzend las.

Auf Smileys Seite öffnete sich eine Tür, und eine alte Frau im Morgenrock erschien mit einer Katze auf der Schulter. Er konnte die Alkoholfahne von gestern abend riechen, noch ehe die Frau den Mund auftat und ihn fragte:

»Sind Sie ein Einbrecher, Herzchen?«

»Ich muß Sie leider enttäuschen«, erwiderte Smiley lachend.

»Nur ein Besucher.«

»Egal, Hauptsache, man ist gefragt, nicht wahr, Herzchen?«

»Da haben Sie recht«, sagte Smiley höflich.

Die letzte Treppe war steil und sehr eng und erhielt echtes Tages­licht durch eine vergitterte Luke in der Dachschräge. Auf dem obersten Podest waren zwei Türen, beide zu, beide sehr schmal. An eine war eine maschinengeschriebene Karte geheftet: »Mr. W. Miller, ÜBERSETZUNGEN.« Smiley erinnerte sich an das Gerangel um Wladimirs neue Identität, jetzt, da er Londoner werden und auf Tauchstation bleiben sollte. »Miller« war kein Problem gewesen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund fand der alte Knabe, Miller sei großartig. »Miller, c'est bien«, hatte er erklärt. »Miller gefällt mir, Max.« Aber »Mister« war alles an­dere als gut. Er bestand zunächst auf General, ließ sich dann bis zum Colonel herab. Smiley, als wiedererstandener Vikar, war indessen in diesem Punkt unnachgiebig: Mister bringe weit we­niger Scherereien, als ein falscher Dienstgrad in der verkehrten Armee, hatte er verfügt.

Er klopfte kräftig, da er wußte, daß ein leises Anklopfen mehr auf­fällt, als ein lautes. Er hörte das Echo, sonst nichts. Kein Geräusch von Schritten, keinen plötzlich verstummenden Laut. Er rief »Wladimir« durch den Briefschlitz, als sei er ein alter Freund, der auf Besuch kommt. Er probierte einen Yale-Schlüssel aus dem Bund; der Schlüssel klemmte. Er probierte einen zweiten. Er paß­te. Smiley trat in die Wohnung und schloß die Tür. Er war auf ei­nen Schlag über den Hinterkopf gefaßt, dachte aber, ein einge­schlagener Schädel sei immer noch besser, als ein weggeschoßenes Gesicht. Er fühlte Schwindel und merkte, daß er den Atem an­hielt. Der gleiche weiße Anstrich, stellte er fest, die gleiche Ge­fängnisöde. Dieselbe merkwürdige Stille, wie in einer Telefonzel­le, und auch dieselbe Mischung von öffentlichen Gerüchen.

Genau an dieser Stelle, so erinnerte sich Smiley, standen wir drei an jenem Nachmittag. Toby und ich wie Hochseeschlepper mit dem alten Schlachtschiff zwischen uns. Das Angebot der Immo­bilienfirma hatte von einem »Penthouse« gesprochen.

»Hoffnungslos«, hatte Toby Esterhase, der wie immer als erster das Wort ergriff, in seinem ungarischen Französisch verkündet und sich bereits wieder zur Tür gewandt, um die Wohnung zu verlassen. »Ich meine, absolut gräßlich. Ich meine, ich hätte sie mir vorher ansehen sollen, ich Idiot«, hatte Toby gesagt, als Wladimir sich immer noch nicht rührte. »General, ich muß mich bei Ihnen entschuldigen. Das hier ist wirklich eine Zumutung.« Smiley hatte sich im gleichen Sinn geäußert. Wir können Ihnen etwas Besseres bieten, als das, Wladi. Etwas viel Besseres. Wir dürfen nur nicht locker lassen.

Doch die Augen des alten Mannes hatten auf dem Fenster ver­weilt, so wie jetzt Smileys Augen, auf dem Wald von Kaminen und Giebeln und schrägen Dächern, der jenseits der Brüstung aufschoß. Und plötzlich hatte er eine behandschuhte Pranke auf Smileys Schulter fallen lassen.

»Verwenden Sie Ihr Geld lieber dazu, diese Schweine in Moskau abzuknallen, Max«; hatte er geraten.

Unter Tränen, die ihm die Wangen hinabrannen, und mit dem gleichen entschlossenen Lächeln hatte Wladimir weiter auf die Moskauer Kamine gestarrt; und auf den schwindenden Traum von einem Leben unter russischem Himmel.

»On reste ici«, hatte er schließlich befohlen, so, als beziehe er eine letzte Verteidigungsstellung.