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Eine schmale Bettcouch stand an einer Wand, auf dem Fenster­brett ein Gaskocher. Der Geruch nach Gipsmörtel weckte in Smiley die Vermutung, daß der alte Mann die Wohnung ständig selbst getüncht, die feuchten Stellen übermalt und die Risse ver­spachtelt hatte. Auf einem Schreib- und Eßtisch waren eine ur­alte Remington und ein paar abgegriffene Wörterbücher. Seine Übersetzungsarbeit, dachte Smiley, ein paar Extra-Pennies zur Aufbesserung seiner »Rente«. Smiley drückte die Ellbogen nach hinten, als schmerze ihn das Rückgrat, richtete sich zu seiner ganzen, wenn auch nicht stolzen Größe auf und machte sich an den Vollzug der vertrauten Totenriten für heimgegangene Spio­ne. Eine estnische Bibel lag auf dem Nachtkästchen aus Fichten­holz. Er tastete das Buch behutsam nach Hohlräumen ab, hielt es dann mit der Schnittseite nach unten, um Papierschnitzel oder Fotos herauszuschütteln. Er zog die Kommodenschublade auf und fand darin ein Flaschen mit Patentpillen zur Neubelebung der schwindenden Manneskraft und drei auf einer Chromspange aufgezogene Tapferkeitsorden der Roten Armee. Soviel zur Tarnung, dachte Smiley und fragte sich, wie um alles in der Welt Wladimir und seine zahlreichen Gespielinnen auf diesem kärgli­chen Lager zurechtgekommen sein mochten. Ein Lutherbild hing über dem Kopfende der Bettcouch. Daneben ein Farbdruck, betitelt »Die roten Dächer von Alt-Riga«, den Wladimir wohl irgendwo herausgerissen und auf ein Stück Pappe geklebt hatte. Eine weitere Ansicht zeigte »Die Kazari-Küste«, eine dritte »Windmühlen mit Burgruine«. Smiley suchte die Wand hinter den Bildern ab. Dann fiel sein Blick auf die Nachttisch­lampe. Er drückte auf den Knopf, und als kein Licht anging, zog er den Stecker heraus, entfernte die Glühbirne und fischte im Sockel herum, ohne Erfolg. Bloß die Birne ausgebrannt, dachte er. Ein jäher Schrei von draußen ließ ihn an die Wand zurück­weichen, doch als er sich wieder gefaßt hatte, sah er, daß es wie­der diese Binnenmöwen waren: eine ganze Kolonie hatte sich rings um die Kaminhauben geschart. Wieder spähte er hinunter auf die Straße. Die beiden Eckensteher waren verschwunden. Sie sind schon unterwegs zu mir herauf, dachte er; mein Vorsprung ist abgelaufen. Es sind gar keine Polizisten, dachte er; es sind Mörder. Das Motorrad mit seinem schwarzen Beiwagen stand einsam und verlassen. Er schloß das Fenster und sinnierte, ob es wohl ein Spezial-Walhall für tote Spione gebe, wo er und Wla­dimir einander wiedersehen würden und er die Dinge richtigstel­len könnte; er sagte sich, daß sein Leben lange genug gewährt habe und daß dieser Augenblick so gut wie jeder andere sei, ihm ein Ende zu setzen. Ohne auch nur eine Sekunde daran zu glau­ben.

Die Tischlade enthielt leeres Schreibpapier, einen Heftapparat, einen angenagten Bleistift, ein paar Gummiringe und eine un­längst ausgestellte, nicht bezahlte Telefonrechnung über acht­undsiebzig Pfund, eine Summe, die ihm mit Wladimirs einfacher Lebensweise in krassem Widerspruch zu stehen schien. Er öff­nete den Heftapparat und fand nichts. Er steckte die Telefon­rechnung zu späterer Prüfung in die Tasche und suchte weiter, wobei er genau wußte, daß dies eigentlich keine richtige Durch­suchung war, daß zu einer richtigen Durchsuchung drei Männer mehrere Tage gebraucht hätten, ehe sie mit Sicherheit hätten sa­gen können, es sei alles gefunden worden, was zu finden war. Wenn er überhaupt nach etwas Bestimmtem Ausschau hielt, dann am ehesten nach einem Adressen- oder Tagebuch oder et­was, das dem einen oder anderen Zweck hatte dienen können, und wäre es auch nur ein Fetzchen Papier. Er wußte, daß alte Spione, selbst die besten, manchmal wie alte Liebhaber waren: Wenn sie in die Jahre kamen fingen sie an zu mogeln, aus Angst, ihre Fähigkeiten könnten sie im Stich lassen. Sie behaupteten, al­les im Kopf zu haben, aber so, wie sie insgeheim ihrer Männlich­keit nachhalfen, so schrieben sie insgeheim Dinge auf, oft in ei­nem selbstgebastelten Code, den jeder, der die Spielregeln kann­te, innerhalb von Stunden oder Minuten knacken konnte: Na­men und Adressen von Kontakten, Unteragenten. Nichts war ihnen heilig. Prozeduren, Treffzeiten und -orte, Decknamen, Telefonnummern, sogar Safekombinationen, als Sozialversiche­rungsnummern und Geburtsdaten getarnt. Zu seiner Zeit hatte Smiley erlebt, daß ganze Netze gefährdet wurden, nur, weil ein Agent seinem Gedächtnis nicht mehr traute. Er glaubte nicht, daß dies bei Wladimir der Fall gewesen war, aber es gab immer ein Erstesmal.

Sagen Sie ihm, ich habe zwei Beweise und kann sie mitbrin­gen ...

Er stand an der Stelle, die der alte Mann seine Küche genannt ha­ben würde: am Fenstersims mit dem Gaskocher darauf und dem selbstgebastelten Vorratskästchen, in das Luftlöcher gebohrt waren. Wir Männer, die unsere Kocherei selber besorgen müs­sen, sind Halb-Menschen, dachte er, als er die zwei Regale mu­sterte, den Topf und die Bratpfanne herauszog, zwischen Cay­enne-Pfeffer und Paprika herumstocherte. Überall sonst im Haus - sogar im Bett - kann man sich einigeln, seine Bücher le­sen, sich einreden, daß der Mensch am besten allein sei. Doch in der Küche sind die Zeichen der Unvoilständigkeit zu augenfällig. Ein halber Laib Schwarzbrot. Eine halbe Mettwurst. Eine halbe Zwiebel. Eine halbe Flasche Milch. Eine halbe Zitrone. Ein hal­bes Päckchen schwarzer Tee. Ein halbes Leben. Er öffnete alles, was sich öffnen ließ, grub mit einem Finger im Paprika. Er ent­deckte eine lose Kachel und krallte sie heraus, er schraubte den Holzgriff der Bratpfanne ab. Als er den Kleiderschrank aufma­chen wollte, hielt er mitten in der Bewegung inne, als lausche er wieder, doch diesmal hatte er etwas gesehen, nicht gehört.

Auf dem Vorratsschränkchen lag eine Stange Gauloises Caporal, Wladimirs Lieblingszigaretten, wenn er keine russischen kriegen konnte. Er las die verschiedenen Aufdrucke. »Duty Free«, »Filt­re«, ferner »Exportation« und »Made in France«. In einer Zello­phanhülle. Er nahm sie herunter. Von den ursprünglichen zehn Päckchen fehlte eines. Im Aschenbecher drei ausgedrückte Stummel derselben Marke. Er schnüffelte, und jetzt erst ge­wahrte er, neben dem Geruch nach Essen und Gipsmörtel, ganz schwach das Aroma französischer Zigaretten in der Luft.

Und keine Zigaretten in der Tasche, erinnerte er sich.

Smiley hielt die blaue Packung in beiden Händen, drehte sie langsam und versuchte, hinter ihren tieferen Sinn zu kommen. Sein Instinkt - besser gesagt, eine noch unterschwellige Wahr­nehmung - signalisierte ihm eindringlich, daß an diesen Zigaret­ten irgendetwas faul war. Nicht das Äußere. Nicht die Füllung, kein Mikrofilm oder Sprengstoff oder Dumdum-Geschoße oder ähnlich abgedroschenes Zeug.

Nur die Tatsache, daß sie hier waren, hier und nirgendwo an­ders, war faul.

So neu, so staubfrei, ein fehlendes Päckchen, drei Zigaretten ge­raucht.

Und keine Zigaretten in der Tasche.

Er arbeitete jetzt rascher, wollte möglichst schnell weg. Die Wohnung lag zu hoch oben. Sie war zu leer und zu voll. Er hatte immer mehr das Gefühl, daß irgendetwas nicht stimmte. Warum hatten sie die Schlüssel nicht genommen? Smiley öffnete den Schrank. Er enthielt Kleidung und Schriften, doch Wladimir be­saß von beiden nicht sehr viel. Die Schriften waren meist hekto­graphierte Pamphlete in Russisch und Englisch oder in etwas, das Smiley für eine der baltischen Sprachen hielt. Da war ein Ordner mit Briefen aus dem alten Pariser Hauptquartier der Gruppe und eine Anzahl Plakate mit Aufschriften wie »DENKT AN LETTLAND«, »DENKT AN ESTLAND«, »DENKT AN LITAUEN«, vermutlich zum Aushang bei öffentlichen Veranstaltungen. Da war eine Schachtel Schulkreide, gelb, aus der zwei Stücke fehlten. Und Wladimirs heißgeliebtes Norfolk-Jackett, vom Haken auf den Boden gefallen. Vielleicht herunter­gerutscht, als Wladimir die Schranktür ein bißchen zu hastig ge­schlossen hatte.

Wladimir, der so eitel war? dachte Smiley. So militärisch in sei­ner Erscheinung? Und sein bestes Jackett liegt zusammenge­knüllt auf dem Schrankboden? Oder hatte eine achtlosere Hand als die Wladimirs es nicht wieder über den Bügel gehängt?