»Wieder stehengeblieben«, verkündete der Superintendent.
»Oder vielleicht nicht ganz, eigentlich mehr auf der Stelle getreten. Fragen Sie mich nicht, warum. Möglicherweise hat er nur die Füße durcheinandergebracht. Möglicherweise war es ihm unheimlich, so dicht an den Bäumen zu sein. Möglicherweise hat sein Herz gestreikt, wenn Sie sagen, daß es einen Knacks hatte. Dann rast er wieder los, wie zuvor.«
»Mit dem Stock in der linken Hand«, hatte Smiley ruhig gesagt. »Warum? Das frage ich mich, Sir, aber vielleicht wißt Ihr Leute die Antwort. Warum? Hat er wieder etwas gehört? Sich an etwas erinnert? Warum - wenn man um sein Leben rennt -, warum stehen bleiben, herumtrampeln, den Stock in die andere Hand nehmen und dann wieder losrennen? Direkt in die Arme des Mörders? Es sei denn, natürlich, der Bursche hinter ihm hat ihn hier überholt, vielleicht einen Bogen durch die Bäume geschlagen? Irgendeine Erklärung von Ihrer Seite der Straße, Mr. Smiley?«
Diese Frage klang Smiley immer noch im Ohr, als sie schließlich bei der Leiche angekommen waren, die wie ein Embryo in ihrem Plastikbauch schwamm.
Doch an diesem darauffolgenden Morgen blieb Smiley kurz vor der Senke stehen. Er stellte seine durchnäßten Schuhe, so gut er konnte, jeweils auf den genau richtigen Fleck und versuchte, die Bewegungen zu imitieren, die der alte Mann gemacht haben mochte. Und da Smiley dies alles in Zeitlupe und mit allen Anzeichen äußerster Konzentration unter dem Blick von zwei behosten Damen tat, die ihre Schäferhunde Gassi führten, wurde er für einen Jünger der als neueste Marotte grassierenden Chinesischen Kampfübungen und dementsprechend für verrückt gehalten.
Zuerst stellte er die Füße nebeneinander, die Spitzen hügelabwärts gerichtet. Dann schob er den linken Fuß vor und drehte den rechten, bis die Spitze direkt auf eine Schonung zeigte. Dabei drehte sich die rechte Schulter ganz von selbst mit, und sein Instinkt sagte ihm, daß genau dies der Augenblick sein würde, um den Stock von der rechten in die linke Hand zu nehmen. Aber warum? Wie schon der Superintendent gefragt hatte: Warum den Stock überhaupt in die andere Hand nehmen?
Warum sollte er in diesem vielleicht allerletzten Augenblick seines Lebens einen Spazierstock feierlich von der rechten in die linke Hand genommen haben? Sicher nicht, um sich zu verteidigen - er war ja Rechtshänder. Um sich zu verteidigen, würde er den Stock nur fester gepackt haben. Oder mit beiden Händen umklammert, wie einen Schläger.
Wollte er die rechte Hand dadurch frei bekommen? Doch: frei, wozu?
Smiley, der sich jetzt eindeutig beobachtet fühlte, linste scharf nach hinten und sah zwei Knirpse in Klubjacken, die stehengeblieben waren, um dieses rundliche bebrillte Männchen bei seiner possierlichen Fußgymnastik zu beobachten. Er blitzte sie in seiner schulmeisterlichsten Manier an, und sie entfernten sich schleunigst.
Die rechte Hand freizubekommen, wofür? fragte Smiley sich wieder. Und warum einen Augenblick später aufs neue losrennen?
Wladimir drehte sich nach rechts, dachte Smiley und vollzog wiederum gleichzeitig mit dem Gedanken auch die Bewegung. Wladimir drehte sich nach rechts. Er stand vor der Schonung, er nahm den Stock von der rechten in die linke Hand. Laut Schlußfolgerung des Superintendent verharrte er einen Moment. Dann rannte er weiter.
Moskauer Regeln, dachte Smiley und starrte auf seine eigene rechte Hand. Langsam steckte er sie in die Tasche seines Regenmantels. Die leer war, so wie die rechte Manteltasche des toten Wladimir leer gewesen war.
Hatte er vielleicht beabsichtigt, eine Botschaft zu schreiben? Smiley zwang sich, die Theorie durchzuspielen, obwohl er sie bereits ausgeschaltet hatte. Eine Botschaft zu schreiben, mit der Kreide zum Beispiel? Wladimir erkannte seinen Verfolger und wollte irgendwo einen Namen oder ein Zeichen hinkreiden. Aber worauf? Ganz sicher nicht auf diese naßen Baumstämme. Auch nicht auf den Lehm, das abgefallene Laub, den Kies. Smiley blickte in die Runde und wurde sich einer Besonderheit seines Standplatzes bewußt. Hier, am Saum der Allee, ziemlich genau zwischen zwei Bäumen, wo der Nebel sich am stärksten verdichtete, war er so gut wie außer Sicht. Die Allee führte hügelab, ja, und stieg vor ihm an, aber sie beschrieb auch eine Kurve, und von dem Platz, wo er stand, war der Ausblick nach oben in beiden Richtungen durch Baumstämme und dichtes Jungholz verstellt. Auf der ganzen Strecke von Wladimirs letztem, verzweifelten Gang, einer Strecke, die er, wohlgemerkt,gut gekannt und für ähnliche Treffs benützt hatte, war dies, wie Smiley mit wachsender Genugtuung bemerkte, der einzige Punkt, wo der Fliehende weder von vorn noch von hinten gesehen werden konnte.
Und war stehengeblieben.
Hatte seine rechte Hand freigemacht.
Hatte mit ihr - sagen wir einmal - in die Tasche gegriffen.
Nach seinen Herztabletten? Nein. Wie die gelbe Kreide und die Zündhölzer waren sie in der linken Tasche gewesen, nicht in der rechten.
Nach irgendetwas, das - sagen wir einmal - nicht mehr in der Tasche war, als man ihn tot aufgefunden hatte.
Wonach also?
Sagen Sie ihm, ich habe zwei Beweise und kann sie mitbringen . . . Dann wird er mich vielleicht sehen wollen . . . Hier ist Gregory, ich möchte Max sprechen. Ich habe etwas für ihn, bitte ...
Beweise. Beweise, die zu kostbar waren, als daß man sie der Post anvertrauen durfte. Er brachte etwas. Zwei Etwase. Nicht nur in seinem Kopf- in der Tasche. Und hielt sich an die Moskauer Regeln. Regeln, die dem General vom ersten Tag nach seinem Frontwechsel an eingebläut worden waren. Von keinem Geringeren als George Smiley, und von seinem örtlichen Einsatzleiter. Überlebensregeln für ihn und sein Netz. Smiley spürte, wie sich sein Magen vor Erregung zusammenzog, als werde ihm übel. Laut Moskauer Regeln muß jeder, der eine Botschaft physisch bei sich trägt, auch die Mittel zu ihrer Beseitigung mitführen! Ganz gleich, wie die Botschaft getarnt oder worin sie verborgen ist - Mikropunkte, Geheimschrift, unentwickelter Film, irgendeine der hundert riskanten und ausgeklügelten Methoden -, als Gegenstand muß sie so beschaffen sein, daß man sie als erstes und am leichtesten in die Hand bekommt und am unauffälligsten abstoßen kann.
Zum Beispiel ein Flaschen Tabletten, dachte er und beruhigte sich wieder ein bißchen. Zum Beispiel eine Schachtel Streichhölzer.
Eine Schachtel Swan Vesta Streichhölzer, angebrochen, Mantel, links, erinnerte er sich. Raucherstreichhölzer, wohlgemerkt. Und in der sicheren Wohnung, bohrte er weiter - wobei er sich selbstquälerisch von der Lösung fernhielt -, da wartete auf dem Tisch ein Päckchen Zigaretten auf ihn. Wladimirs Lieblingsmarke. Und in Westbourne Terrace auf dem Vorratsschränkchen neun Päckchen Gauloises Caporal. Neun von zehn.
Aber keine Zigaretten in den Taschen. Keine, wie der wackere Superintendent gesagt haben würde, bei seiner Person. Das heißt, keine jedenfalls, als er gefunden wurde.
Wie also lautet die Prämisse, George? fragte Smiley sich, wobei er Lacon nachahmte - Lacons direktorialen Zeigefinger anklagend auf sein eigenes unzerschossenes Gesicht richtete -, die Prämisse ? Die Prämisse, Oliver, lautet, daß ein Raucher, ein Gewohnheitsraucher, sich im Zustand hochgradiger Nervosität auf den Weg macht zu einem geheimen hochwichtigen Treffen, wohlversehen mit Streichhölzern, doch ohne auch nur die Spur eines, und wäre es auch nur leeren Päckchens Zigaretten - obwohl er nachweislich einen größeren Vorrat davon zu Hause hat. Also haben entweder die Mörder es gefunden und mitgenommen - den Beweis, die Beweise, von denen Wladimir sprach -, oder - oder was? Oder Wladimir hat rechtzeitig den Stock von der Rechten in die Linke genommen. Und rechtzeitig die rechte Hand in die Tasche gesteckt. Und sie ebenso rechtzeitig wieder herausgezogen, genau an der Stelle, wo er nicht gesehen werden konnte. Und den Beweis oder die Beweise nach den Moskauer Regeln abgestoßen.