Nachdem er so seinem eigenen hartnäckigen Drängen auf logische Abfolge der Ereignisse Genüge getan hatte, watete Smiley vorsichtig durch das hohe Gras, das zur Schonung führte, wobei er seine Hosen bis zu den Knien durchnäßte. Er suchte eine halbe Stunde oder noch länger, tastete im Gras und im Laub umher, kam immer wieder auf seine Spuren zurück, verfluchte seine Tollpatschigkeit, gab auf, fing wieder an, antwortete auf die idiotischen Fragen der Passanten, die ihn mit zotigen Bemerkungen oder übertriebener Aufmerksamkeit bedachten. Sogar zwei Buddhistenmönche aus dem nahen Seminar, in safrangelben Gewändern, Schnürsandalen und gestrickten Wollkappen, kamen vorüber und boten ihre Hilfe an. Smiley lehnte höflich dankend ab. Er fand zwei zerbrochene Drachen, eine Anzahl Coca-Cola-Dosen. Er fand Fetzen des weiblichen Körpers, einige davon in Farbe, einige in Schwarz-Weiß, aus Magazinen gerissen. Er fand einen alten Laufschuh, schwarz, Reste einer alten verbrannten Decke. Er fand vier Bierflaschen, leer, und vier leere Zigarettenpäckchen, die so alt und durchweicht waren, daß sie nicht in Betracht kamen. Und, eingeklemmt in einer Gabel zwischen dem Ansatz eines Astes und seinem Baumstamm, das fünfte Päckchen - oder besser gesagt, das zehnte -, und es war nicht leer; ein verhältnismäßig trockenes Päckchen Gauloises Caporal, Filtre undDuty Free, hoch oben. Smiley streckte sich danach, wie nach einer verbotenen Frucht, aber wie alle verbotenen Früchte war es außerhalb seiner Reichweite. Er sprang danach und fühlte seinen Rücken bersten: ein deutlicher und nervtötender Riß, der ihm noch nach Tagen stechende Schmerzen verursachen sollte. Er sagte laut »verdammt« und rieb sich die Stelle, wie die Ostrakowa es getan haben könnte. Zwei Stenotypistinnen, die auf dem Weg ins Büro vorbeikamen, trösteten ihn mit ihrem Kichern. Er fand einen Stecken, stocherte das Päckchen herunter, öffnete es. Es waren noch vier Zigaretten darin. Hinter den vier Zigaretten, halb versteckt und durch die Zellophanhülle geschützt, etwas, das er erkannte, aber nicht mit seinen nassen und zitternden Fingern zu berühren wagte. Etwas, das er nicht einmal zu betrachten wagte, solange er sich an diesem unheimlichen Ort befand, wo kichernde Tippmädchen und buddhistische Mönche in aller Unschuld über die Stelle trampelten, auf der Wladimir gestorben war. Sie haben den einen, ich habe den anderen, dachte er. Ich teile die Hinterlassenschaft des alten Mannes mit seinen Mördern.
Dem Verkehr trotzend, wanderte er auf dem schmalen Gehsteig hügelabwärts, bis er nach South End Green kam, wo er ein Cafe zu finden hoffte, um dort Tee zu trinken. Da keines offen war, setzte er sich auf eine Bank, einem Kino gegenüber, betrachtete einen alten Marmorbrunnen und zwei rote Telefonzellen, eine verdreckter als die andere. Ein warmer Sprühregen hatte eingesetzt; einige Ladenbesitzer ließen schon die Markisen herunter; ein Delikatessenladen nahm eine Lieferung Brot in Empfang. Smiley saß mit eingezogenen Schultern, und die feuchten Spitzen seines Mantelkragens stachen ihn in die unrasierten Wangen, sooft er den Kopf drehte. »So trauere doch, um Himmels willen!« hatte Ann ihm einmal entgegengeschleudert, wütend über die Gefaßtheit, die er zur Schau trug, als wieder einmal ein Freund gestorben war. »Wenn du um die Toten nicht trauern willst, wie kannst du dann die Lebenden lieben?« Jetzt, da er auf dieser Bank über den nächsten Schritt nachsann, ließ Smiley ihr die Antwort zukommen, die ihm damals nicht eingefallen war. »Du irrst«, sagte er zerstreut zu ihr. »Ich trauere aufrichtig um die Toten, und in diesem Augenblick ganz besonders tief um Wladimir. Wogegen es zuweilen nicht ganz einfach ist, die Lebenden zu lieben.«
Er probierte die beiden Telefonzellen, und die zweite funktionierte. Wundersamerweise war auch der Band S-Z uversehrt, und der Mini-Taxi-Dienst »Schnell und Sicher«, Islingston Nr. l, hatte sich, um dem Wunder die Krone aufzusetzen, in die Unkosten eines Fettdrucks gestürzt. Er wählte die Nummer, und während das Freizeichen ertönte, verfiel er in Panik, da er glaubte, sich nicht mehr an den Namen des Fahrers auf Wladimirs Quittung erinnern zu können. Er hängte ein und nahm sein Geldstück wieder an sich. Lane? Lang? Er wählte wieder. Eine weibliche Stimme meldete sich in gelangweiltem Singsang:
»Hier Schnell und Sicher! Name-wann-und-wo-hin, bitte?«
»Könnte ich bitte Mr. J. Lamb sprechen, einen Ihrer Fahrer?« sagte Smiley höflich.
»Bedauere, keine Privatgespräche auf dieser Leitung«, sang sie und legte auf.
Er wählte ein drittes Mal. Es sei keineswegs privat, sagte er scharf, da er jetzt seiner Sache sicherer war. Er wolle Mr. Lamb als Fahrer, und zwar ausschließlich Mr. Lamb und keinen sonst. »Sagen Sie ihm, es ist eine lange Fahrt. Stratford-on-Avon« - er nannte die erste Stadt, die ihm einfiel -, »sagen Sie ihm, ich möchte nach Stratford fahren.« Sampson antwortete er, als sie auf einem Namen bestand. Sampson mit »p«.
Er ging wieder zu seiner Bank zurück und wartete.
Lacon anrufen? Wozu? Nach Hause eilen, das Zigarettenpäckchen öffnen, den kostbaren Inhalt prüfen? Wladimir hat es als erstes weggeworfen, dachte er: Im Spionagegeschäft trennen wir uns zuerst von dem, was wir am meisten lieben. Ich kann schließlich doch noch von Glück sagen. Ein älteres Paar hatte sich ihm gegenüber niedergelassen. Der Mann trug eine Melone und blies Kriegsweisen auf einem Blechpfeifchen. Seine Frau grinste die Vorübergehenden idiotisch an. Um ihren Blick zu vermeiden, entsann Smiley sich des braunen Umschlags aus Paris. Er riß ihn auf, in Erwartung welchen Inhalts? Einer Rechnung vermutlich, irgendeines Überbleibsels aus dem Leben des alten Knaben dort drüben. Oder eines dieser hektographierten Schlachtrufe, die Emigranten einander zusenden wie Weihnachtskarten. Aber es war weder eine Rechnung noch ein Rundschreiben, sondern ein persönlicher Brief: ein Hilferuf, aber einer von ganz besonderer Art. Ohne Unterschrift, ohne Absender. In französisch, sehr schnell mit der Hand geschrieben. Smiley las ihn einmal, und er war gerade dabei, ihn ein zweites Mal zu lesen, als ein bunt lackierter Ford Cortina, an dessen Steuer ein Junge im Polohemd saß, rasant schlitternd vor dem Kino zum Stehen kam. Smiley steckte den Brief in die Tasche und ging über die Straße zum Taxi.
»Sampson mit >p<? krähte der Junge impertinent durch das Fenster und stieß dann die hintere Tür von innen auf. Smiley kletterte hinein. Es roch nach einer Mischung von Rasierwasser und abgestandenem Zigarettenrauch. Er hielt eine Zehnpfundnote gut sichtbar in der Hand.
»Würden Sie bitte den Motor abstellen«, sagte Smiley.
Der Junge gehorchte und sah ihn dabei unverwandt im Rückspiegel an. Er war braunhaarig und trug eine Afro-Frisur. Weiße, sorgfältig manikürte Hände.
»Ich bin Privatdetektiv«, erklärte Smiley. »Sicher haben Sie oft mit unseresgleichen zu tun, und ich weiß, wir sind eine Landplage, aber ich würde mir eine kleine Auskunft gern etwas kosten lassen. Sie haben gestern eine Quittung über dreizehn Pfund ausgestellt. Können Sie sich an Ihren Fahrgast erinnern?«
»Großer Typ. Ausländer. Weißer Schnurrbart und Hinkebein.«
»Alt?«
»Sehr. Mit Krückstock und so.«
»Wo haben Sie ihn abgeholt?«
»Restaurant Cosmo, Praed Street, zehn Uhr dreißig vormittags«, rasselte der Junge in einem Zug herunter.
Praed Street war fünf Minuten zu Fuß von Westbourne Terrace entfernt.
»Und wo, bitte, haben Sie ihn hingefahren?«
»Charlton.«
»Charlton in Süd-Ost-London?«
»Sankt Sowieso-Kirche, Höhe Battle-of-the-Nile Street. Am Pub >Zum besiegten Frosch< abgesetzt.«
»Frosch?«
»Franzose.«
»Haben Sie ihn dort gelassen?«
»Eine Stunde gewartet, dann zurück zur Praed Street.«
»Hielten Sie sonst noch irgendwo?«
»Einmal vor einem Spielzeugladen, auf der Hinfahrt, einmal an einer Telefonzelle, auf dem Rückweg. Fahrgast kaufte Holzente auf Rädern.« Er drehte den Oberkörper, stützte das Kinn auf die Rückenlehne des Sitzes und spreizte respektlos die Hände, um die Größe anzuzeigen. »Gelbes Dings«, sagte er. »Das Telefonat war ein Ortsgespräch.«
»Woher wissen Sie das?«
»Hab ihm Twopence gepumpt, oder? Ist dann zurückgekommen und hat sich nochmal zwei Zehner ausgeliehen, für alle Fälle.«
Ich fragte ihn, von wo er anriefe, aber er sagte nur, er habe genügend Kleingeld, hatte Mostyn gesagt.
Smiley reichte dem Jungen die Zehnpfundnote und streckte die Hand nach dem Türgriff aus.
»Sie können Ihrer Firma sagen, ich sei nicht aufgetaucht«, sagte er.
»Denen sag ich verdammtnochmal, was mir paßt, oder?«
Smiley kletterte hastig hinaus und konnte gerade noch die Tür schließen, ehe der Junge mit dem gleichen Höllentempo wieder abfuhr. Er vollendete im Stehen die zweite Lektüre des Briefes und hatte ihn nun endgültig im Kopf. Eine Frau, dachte er instinktiv. Und sie glaubt, daß sie sterben muß. Nun, das glauben wir alle, und wir haben recht. Er spielte sich selber den Leichtherzigen vor, den Gleichgültigen. Der Mensch verfügt nur über ein bestimmtes Quantum Mitgefühl, und meines, so befand er, ist für heute erschöpft. Aber der Brief erschreckte ihn dennoch und stachelte ihn aufs neue zur Eile an.
General, ich will nicht dramatisieren, aber ein paar Männer beobachten mein Haus, und ich glaube nicht, daß es Freunde von mir sind. Heute morgen hatte ich den Eindruck, daß sie versuchten, mich umzubringen. Könnten Sie mir nicht nochmals Ihren Freund, den Magier, schicken?
Er hatte Dinge zu verbergen. Zu kaschieren, wie man in Sarratt sagen mußte. Er fuhr mit Bussen, stieg mehrmals um, hielt nach Verfolgern Ausschau, döste. Das schwarze Motorrad mit seinem Beiwagen war nicht wieder aufgetaucht; er konnte keinen anderen Observanten ausmachen. In einem Schreibwarenladen in der Baker Street kaufte er eine große Pappschachtel, ein paar Zeitungen, Einwickelpapier und eine Rolle Scotchtape. Er rief ein Taxi, kauerte sich in den Fond und machte sein Paket zurecht. Er legte Wladimirs Zigarettenpäckchen hinein, zusammen mit dem Brief der Ostrakowa und stopfte den Leerraum mit Zeitungen aus. Er wickelte die Schachtel ein und verhedderte seine Finger im Scotchtape. Mit Klebebändern war er noch nie zu Rande gekommen. Er schrieb seinen eigenen Namen obenauf und den Zusatz »Wird abgeholt«. Er entlohnte das Taxi am Savoy Hotel, wo er die Schachtel, zusammen mit einer Pfundnote, dem Wärter des Waschraums für Herren zur Verwahrung gab.
»Nicht schwer genug für eine Bombe, wie, Sir?« fragte der Wärter und hielt das Paket scherzhaft ans Ohr.
»Da würde ich nicht so sicher sein«, sagte Smiley, und sie lachten beide herzhaft darüber.
Sagen Sie Max, es betrifft den Sandmann«, dachte er. Wladimir, fragte Smiley sich nachdenklich, was war dein zweiter Beweis?