»Sankt Sowieso-Kirche, Höhe Battle-of-the-Nile Street. Am Pub >Zum besiegten Frosch< abgesetzt.«
»Frosch?«
»Franzose.«
»Haben Sie ihn dort gelassen?«
»Eine Stunde gewartet, dann zurück zur Praed Street.«
»Hielten Sie sonst noch irgendwo?«
»Einmal vor einem Spielzeugladen, auf der Hinfahrt, einmal an einer Telefonzelle, auf dem Rückweg. Fahrgast kaufte Holzente auf Rädern.« Er drehte den Oberkörper, stützte das Kinn auf die Rückenlehne des Sitzes und spreizte respektlos die Hände, um die Größe anzuzeigen. »Gelbes Dings«, sagte er. »Das Telefonat war ein Ortsgespräch.«
»Woher wissen Sie das?«
»Hab ihm Twopence gepumpt, oder? Ist dann zurückgekommen und hat sich nochmal zwei Zehner ausgeliehen, für alle Fälle.«
Ich fragte ihn, von wo er anriefe, aber er sagte nur, er habe genügend Kleingeld, hatte Mostyn gesagt.
Smiley reichte dem Jungen die Zehnpfundnote und streckte die Hand nach dem Türgriff aus.
»Sie können Ihrer Firma sagen, ich sei nicht aufgetaucht«, sagte er.
»Denen sag ich verdammtnochmal, was mir paßt, oder?«
Smiley kletterte hastig hinaus und konnte gerade noch die Tür schließen, ehe der Junge mit dem gleichen Höllentempo wieder abfuhr. Er vollendete im Stehen die zweite Lektüre des Briefes und hatte ihn nun endgültig im Kopf. Eine Frau, dachte er instinktiv. Und sie glaubt, daß sie sterben muß. Nun, das glauben wir alle, und wir haben recht. Er spielte sich selber den Leichtherzigen vor, den Gleichgültigen. Der Mensch verfügt nur über ein bestimmtes Quantum Mitgefühl, und meines, so befand er, ist für heute erschöpft. Aber der Brief erschreckte ihn dennoch und stachelte ihn aufs neue zur Eile an.
General, ich will nicht dramatisieren, aber ein paar Männer beobachten mein Haus, und ich glaube nicht, daß es Freunde von mir sind. Heute morgen hatte ich den Eindruck, daß sie versuchten, mich umzubringen. Könnten Sie mir nicht nochmals Ihren Freund, den Magier, schicken?
Er hatte Dinge zu verbergen. Zu kaschieren, wie man in Sarratt sagen mußte. Er fuhr mit Bussen, stieg mehrmals um, hielt nach Verfolgern Ausschau, döste. Das schwarze Motorrad mit seinem Beiwagen war nicht wieder aufgetaucht; er konnte keinen anderen Observanten ausmachen. In einem Schreibwarenladen in der Baker Street kaufte er eine große Pappschachtel, ein paar Zeitungen, Einwickelpapier und eine Rolle Scotchtape. Er rief ein Taxi, kauerte sich in den Fond und machte sein Paket zurecht. Er legte Wladimirs Zigarettenpäckchen hinein, zusammen mit dem Brief der Ostrakowa und stopfte den Leerraum mit Zeitungen aus. Er wickelte die Schachtel ein und verhedderte seine Finger im Scotchtape. Mit Klebebändern war er noch nie zu Rande gekommen. Er schrieb seinen eigenen Namen obenauf und den Zusatz »Wird abgeholt«. Er entlohnte das Taxi am Savoy Hotel, wo er die Schachtel, zusammen mit einer Pfundnote, dem Wärter des Waschraums für Herren zur Verwahrung gab.
»Nicht schwer genug für eine Bombe, wie, Sir?« fragte der Wärter und hielt das Paket scherzhaft ans Ohr.
»Da würde ich nicht so sicher sein«, sagte Smiley, und sie lachten beide herzhaft darüber.
Sagen Sie Max, es betrifft den Sandmann«, dachte er. Wladimir, fragte Smiley sich nachdenklich, was war dein zweiter Beweis?
9
Krane und Gasometer verstellten den Horizont, Schornsteine spuckten träge ockerfarbenen Rauch in die niedrig hängenden Regenwolken. Wäre es nicht Sonnabend gewesen, Smiley hätte die öffentlichen Verkehrsmittel benutzt, doch an Samstagen wagte er sich ans Steuer, obwohl er mit dem Verbrennungsmotor auf Kriegsfuß stand. Er hatte die Themse an der Vauxhall Bridge überquert, Greenwich lag hinter ihm, und er fuhr jetzt durch das flache zersiedelte Hinterland der Docks. Während die Scheibenwischer hin- und herzitterten, krochen große Regentropfen durch die Karosserie seines armen englischen Kleinwagens. Mißmutige Kinder, die unter dem Schutzdach einer Bushaltestelle standen, riefen: »Nimm's Gas weg, Chef.«
Er hatte sich rasiert, ein Bad genommen, aber nicht geschlafen. Er hatte Wladimirs Telefonrechnung an Lacon geschickt mit der Bitte um sofortige Aufschlüsselung aller nachprüfbaren Anrufe. Sein Geist war klar, wurde aber von anarchischen Stimmungsschwankungen heimgesucht. Er trug den braunen Tweedmantel, den er immer auf Reisen benutzte. Er meisterte einen Kreisverkehr, fuhr eine Anhöhe hinauf, und plötzlich stand unter einem Aushängeschild, das einen rotgesichtigen Krieger darstellte, ein prachtvoller Pub im viktorianischen Stil vor ihm. Die Battle-of-the-Nile Street nahm hier ihren Anfang und führte zu einer Insel aus zertretenem Gras, und auf der Insel erhob sich die aus Stein und Klinker erbaute Sankt Saviour's Kirche, die den zerfallenden viktorianischen Lagerhäusern Gottes Botschaft verkündete. Ein Anschlag besagte, daß die Predigt am nächsten Sonntag von einem weiblichen Major der Heilsarmee gehalten werde, und vor dem Anschlag stand das Monstrum: ein zehn Meter langer knallroter Riesenlaster. Die Seitenfenster waren mit Fußballwimpeln bestückt, und eine Menge buntscheckiger Hotelaufkleber bedeckten eine der Türen. Der Laster war das größte Ding weit und breit, größer sogar als die Kirche. Irgendwo in der Ferne hörte Smiley, wie ein Motorrad verlangsamte und dann wieder beschleunigte, aber er nahm sich nicht einmal die Mühe, umzuschauen. Die vertraute Eskorte war ihm seit Chelsea gefolgt; doch Angst ist, wie er in Sarratt zu predigen pflegte, eine Ermessensfrage.
Smiley folgte einem Pfad durch einen gräberlosen Friedhof. Reihen von Leichensteinen begrenzten die Fläche, den Mittelpunkt bildeten ein Klettergerüst und drei neue Standard-Einfamilienhäuser. Das erste Haus hieß Zion, das zweite trug keinen Namen, und das dritte hieß Nummer Drei. Alle hatten breite Fenster, doch nur Nummer Drei besaß Spitzengardinen. Als Smiley das Gartentor aufstieß, war alles, was er sah, ein einzelner Schatten im Oberstock des Hauses. Der Schatten war zuerst unbeweglich, dann sank er in sich zusammen, als habe der Fußboden ihn aufgesogen. Blitzartig fuhr Smiley die schreckliche Frage durch den Kopf, ob er nicht soeben Zeuge eines weiteren Mordes gewesen sei. Er drückte auf die Klingel, und im Hausinneren explodierte ein Glockenspiel. Die Tür bestand aus geriffeltem Glas. Erpreßte ein Auge dagegen und sah einen braunen Treppenläufer und etwas, das ein Kinderwagen sein mochte. Er klingelte nochmals und hörte einen Schrei, der leise einsetzte und stetig anschwoll. Zuerst glaubte er, es sei ein Kind, dann eine Katze, dann ein Flötenkessel. Das Geräusch erreichte seinen Höhepunkt, verharrte dort eine Weile und brach dann jäh ab, weil entweder jemand den Kessel vom Feuer genommen hatte oder der Pfeifaufsatz weggesprungen war. Er ging zur Rückseite des Hauses. Sie unterschied sich in nichts von der Vorderseite, abgesehen von den Abflußrohren, einem Gemüsebeet und einem winzigen Goldfischbecken aus vorgefertigten Teilen. Im Becken war kein Wasser und folglich auch kein Goldfisch, doch eine gelbe Holzente lag umgestürzt auf dem Grund. Ihr Schnabel war offen, ihre Augen starrten in den Himmel, und ihre Räder drehten sich noch.
Der Fahrgast kaufte eine Holzente auf Rädern, hatte der Mini-Taxi-Chauffeur gesagt und sich dabei umgedreht, um mit seinen weißen Händen die Größe anzudeuten. »Gelbes Dings.«
An der Hintertür war ein Klopfer. Smiley schlug ihn leicht an und drehte den Türknauf, der nachgab. Er trat ein und schloß die Tür sorgfältig hinter sich. Er stand in einer Spülküche, die zur eigentlichen Küche führte, und das erste, was er in der Küche sah, war ein Wasserkessel, den jemand vom Gas gestellt hatte und aus dessen Pfeifdüse sich lautlos eine dünne Dampfspirale kringelte. Und zwei Tassen und einen Milchkrug und eine Teekanne auf einem Tablett.
»Mrs. Craven?« rief er leise. »Stella?«
Er durchquerte das Eßzimmer und stand in der Diele auf dem braunen Teppich neben dem Kinderwagen, und im Geist schloß er einen Pakt mit Gott: Bloß keine Toten mehr, bloß keine Wladimirs mehr, und ich werde Dich anbeten bis an unser Lebensende.