»Ich frage ihn: >Wladi! Was gibt's? Hören Sie, wie geht's Ihnen ?<«
Wladimir war in einer Telefonzelle am anderen Ende der Straße. Er wollte Willem sofort persönlich sprechen. Entgegen allen Bestimmungen der Betriebsordnung ließ Willem ihn an der Kreuzung einsteigen, und Wladimir fuhr den halben Weg nach Dover mit: »Schwarz«, sagte Willem, und meinte damit »vorschriftswidrig«. Der alte Knabe hatte einen Strohkorb voller Orangen dabei, aber Willem war nicht in der Stimmung gewesen zu fragen, warum er sich ein paar Pfund Apfelsinen aufhalsen sollte. Zuerst sprach Wladimir von Paris und von Willems Vater und von den großen Schlachten, die sie zusammen geschlagen hatten, dann fing er von einer kleinen Gefälligkeit an, die Willem ihm erweisen könne. Der alten Zeiten wegen, eine kleine Gefälligkeit. Willems Vater wegen, den Wladimir geliebt hatte. Der Gruppe wegen, deren großer Held einst Willems Vater gewesen war.
»Ich sag zu ihm: >Wladi, diese kleine Gefälligkeit ist unmöglich für mich. Ich verspreche Stella: ist unmöglich.<«
Stellas Hand hob sich von der ihres Mannes, und die junge Frau saß da, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihn zu trösten, und ihrem Kummer über seinen Wortbruch.
Nur eine ganz kleine Gefälligkeit, hatte Wladimir betont. Klein, keine Scherereien, kein Risiko, aber eine große Hilfe für unsere Sache: außerdem Willems Pflicht. Dann brachte Wladimir Schnappschüße zum Vorschein, die er bei Beckies Taufe aufgenommen hatte. Sie waren in einem gelben Kodak-Umschlag, die Abzüge auf einer Seite, die Negative in einer Zellophanschutzhülle auf der anderen, und das blaue Etikett des Drogisten noch immer außen angeheftet, alles ganz und gar harmlos.
Eine Weile bewunderten sie die Bilder, bis Wladimir plötzlich sagte: »Es ist für Beckie, Willem. Was wir tun, tun wir für Beckies Zukunft.«
Während Willem diese Worte Wladimirs wiederholte, ballte Stella die Fäuste, und als sie wieder aufsah, wirkte sie entschlossen und sehr viel älter, mit Inseln von Fältchen um die Augenwinkel.
Willem fuhr in seiner Geschichte fort: »Dann sagt Wladimir zu mir: >Willem. Jeden Montag fährst du nach Hannover und Hamburg, und kommst freitags zurück. Wie lange Zeit bleibst du in Hamburg, bitte?<«
Worauf Willem geantwortet hatte, so wenig, wie möglich, je nachdem, wie lange er zum Ausladen brauchte, je nachdem, ob die Lieferung an den Kommissionär ging oder an den Empfänger, je nachdem, zu welcher Tageszeit er ankam und wieviele Stunden er schon in seinem Fahrtenbuch hatte. Es kamen noch mehr Fragen dieser Art - viele davon völlig banal -, und Willem gab auch sie wieder: wo Willem unterwegs schlafe, wo er esse -und Smiley wußte, daß der alte Mann auf ziemlich monströse Art genau das tat, was auch er selber getan hätte; er redete Willem in eine Ecke, veranlaßte ihn zu antworten, als Vorspiel zu seinem Nachgeben. Und jetzt erst erklärte Wladimir unter Aufgebot aller seiner militärischen und familiären Autorität, was Willem tun sollte.
»Er sagt zu mir: >Willem, nimm diese Orangen für mich nach Hamburg mit. Nimm diesen Korb.< >Wozu?< frag ich ihn. >General, warum soll ich diesen Korb nehmen?< Da gibt er mir Geld, fünfzig Pfund. >Für Notfalles sagt er zu mir. >Im Notfall sind hier fünfzig Pfund.< >Aber wozu denn der Korb?< frag ich ihn. >Was für ein Notfall ist denn vorgesehen, General?<«
Dann rezitierte Wladimir die Instruktionen für Willem, sie schlössen Ausweichmöglichkeiten und alle erdenklichen Eventualitäten mit ein - sogar eine zusätzliche Übernachtung mit Hilfe der fünfzig Pfund -, und Smiley stellte fest, daß der General auch hier, genau wie bei Mostyn, strikt auf Moskauer Regeln bestanden und, wie alle seinesgleichen, des Guten zuviel getan hatte - je älter er wurde, desto mehr verstrickte sich der alte Knabe in das Netz seiner eigenen Verschwörungen. Willem sollte den gelben Kodak-Umschlag mit Beckies Fotos oben auf die Orangen legen, nach vorn zum Schiffsbug schlendern - was Willem dann alles tatsächlich getan hatte, sagte er-, und der Umschlag war der Briefkasten, und das Zeichen dafür, daß er aufgefüllt worden war, würde eine gelbe Kreidemarke sein, »so gelb, wie der Umschlag, was eine Tradition unserer Gruppe ist«, sagte Willem.
»Und das Sicherheitssignal?« fragte Smiley. »Das Signal, das besagt: >Ich werde nicht verfolgt<?«
»War Hamburger Zeitung von gestern«, antwortete Willem prompt - indessen habe es, wie er gestand, über diesen Punkt eine kleine Auseinandersetzung gegeben, trotz des Respekts, den er Wladimir als Führer, als General und als Freund seines Vaters schuldete -
»Er spricht zu mir, > Willem, du steckst diese Zeitung in deine Tasche.< Aber ich sag ihm: >Wladi, bitte schauen Sie mich an, ich hab nur Trainingsanzug, keine Taschen.< Also sagt er, >Willem, dann trägst du die Zeitung unterm Arm.<«
»Bill«, sagte Stella und atmete tief durch, wie nach einem Schock. »Bill, du hirnverbrannter Narr.« Sie wandte sich an Smiley. »Ich meine, warum hat er es, was immer es auch war, nicht mit der Scheißpost geschickt und damit basta?«
Weil es ein Negativ war. Und nach Moskauer Regeln sind ausschließlich Negative beweiskräftig. Weil der General in der beständigen Furcht vor Verrat lebte, dachte Smiley. Er witterte ihn in allem und jedem. Und wenn der Tod Beweiskraft besitzt, dann hatte er Recht gehabt.
»Und es hat geklappt?« fragte Smiley schließlich Willem mit großer Behutsamkeit. »Die Übergabe hat geklappt?«
»Sicher! Großartig geklappt«, stimmte Willem lebhaft zu und warf einen trotzigen Blick auf Stella.
»Und haben Sie irgendeine Ahnung, zum Beispiel, wer Ihr Kontakt bei diesem Treffen gewesen sein könnte?«
Nur sehr zögernd und nach vielem Zureden, teils von Stella, berichtete Willem auch davon: von dem hohlwangigen Gesicht, das so verzweifelt ausgesehen und ihn an seinen Vater erinnert hatte; von dem warnenden Starren, das er vielleicht wirklich gesehen oder sich in seiner Aufregung nur eingebildet hatte. So, wie manchmal im Fernsehen, wenn man ein Fußballspiel verfolgt, was er leidenschaftlich gerne tat, die Kamera ein Gesicht aus der Menge herausholt, das einem dann bis zum Ende des Spiels gegenwärtig bleibt, auch wenn es nie wieder auftauchte - genau so war es ihm mit dem Gesicht auf dem Schiff gegangen. Er beschrieb die aufgezwirbelten Haarbüschel und zog mit den Fingerspitzen tiefe Furchen in seine eigenen glatten Wangen. Er beschrieb, wie klein der Mann war, und sogar, wie sexy er wirkte - Willem sagte, da sei er sicher. Er beschrieb sogar, wie er den Eindruck gehabt habe, der Mann wolle ihn ermahnen - ermahnen, auf das wertvolle Ding achtzugeben. Genau so würde er selber dreinschauen — sagte Willem zu Stella in einer jähen tragischen Vision -, wenn wieder Krieg wäre und Kämpfe und er Beckie einem Fremden in Obhut geben müßte! Und dies war das Stichwort für weitere Tränen und weitere Aussöhnung und weitere Wehklagen über den Tod des alten Mannes, denen Smileys nächste Frage unweigerlich neue Nahrung gab:
»Also: Sie haben den gelben Umschlag zurückgebracht, und gestern, als der General mit der Ente für Beckie hierherkam, haben Sie ihm den Umschlag ausgehändigt«, spann Smiley den Faden so vorsichtig wie irgend möglich weiter, aber er mußte noch eine gute Weile warten, bis eine zusammenhängende Erzählung zustande kam.
William hatte es sich, sagte er, zur Gewohnheit gemacht, am Freitag, ehe er vom Lager nach Hause fuhr, ein paar Stunden in der Kabine des Lasters zu schlafen, sich dann zu rasieren und eine Tasse Tee mit den Jungens zu trinken, so daß er ausgeruht daheim ankam und nicht nervös und mißgelaunt. Es war ein Trick, den er von den alten Hasen gelernt hatte, sagte er: Nicht direkt heimbrausen, das gibt nur Ärger. Aber gestern war's anders, sagte er, und außerdem - er stutzte plötzlich die Namen auf eine Silbe zusammen - war Stell mit Beck zu Ma nach Staines gefahren. Also war er ausnahmsweise geradewegs nach Hause gekommen, hatte Wladimir angerufen und ihm das vereinbarte Codewort gegeben. »Wo angerufen?« unterbrach Smiley ihn sanft.