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»Schön, tun Sie, was Sie können. Hat außer Mikhel sonst noch wer angerufen? Vielleicht jemand, der sich verwählt hat? Einmal klingeln lassen - dann wieder aufgelegt?«

Sie überlegte und schüttelte dann den Kopf.

»Ist jemand an die Tür gekommen? Vertreter, Marktforscher, Wanderprediger? Meinungsumfrager? Irgend jemand? Sind Sie sicher?«

Sie starrte ihn weiter an, und ihre Augen schienen ihn zusehends zu ergründen und ihm Achtung zu bezeugen. Dann schüttelte sie wiederum den Kopf, verwehrte ihm die Partnerschaft, um die er warb.

»Bleiben Sie ihm vom Leib, Max. Sie und alle anderen. Ganz gleich, was passiert und wie schlimm es ist. Er ist erwachsen. Er braucht keinen Vikar mehr.«

Sie sah ihm nach, vielleicht, um sicher zu sein, daß er wirklich ging. Wie er so dahinfuhr, brannte ihm eine Weile die Sorge um Wladimirs Negativ in der Zigarettenschachtel auf der Seele wie Angst um verstecktes Geld - ob es wohl in Sicherheit war, ob er einen Blick darauf tun oder einen Abzug machen solle; schließ­lich war es unter Hingabe des Lebens durch die feindlichen Li­nien gebracht worden. Doch als er sich dem Fluß näherte, hatten seine Gedanken und Vorhaben eine andere Richtung eingeschla­gen. Er umfuhr Chelsea, reihte sich in den nordwärts fließenden Wochenendverkehr ein, den hauptsächlich junge Familien in al­ten Wagen bestritten. Und ein wohlvertrautes Motorrad mit schwarzem Beiwagen, das ihm auf der ganzen Strecke nach Bloomsbury getreulich auf den Fersen blieb.

10

Die Freie Baltische Bibliothek befand sich im dritten Stock über einem verstaubten Antiquariat, das auf Spiritismus spezialisiert war. Seine kleinen Fenster schielten auf einen Vorhof des Briti­schen Museums hinunter. Bei seinem mühsamen Aufstieg durch ein geschwungenes holzverkleidetes Treppenhaus war Smiley an einigen betagten, handgezeichneten Plakaten vorbeigekommen, die an Reißnägeln hingen, sowie an einem Stapel brauner Schach­teln mit Toilettenartikeln, Eigentum des Drogisten von neben­an. Als er schließlich sein Ziel erreicht hatte, bemerkte er, daß er gründlich außer Atem gekommen war, und er legte klugerweise eine kleine Rast ein, bevor er läutete. In seiner momentanen Er­schöpfung wurde er dabei von einer Halluzination heimgesucht. Ihm war, als strebe er immer wieder demselben hochgelegenen Ort zu: der sicheren Wohnung in Hampstead, Wladimirs Man­sarde in Westbourne Terrace, und jetzt diesem gespenstischen Rückstand aus den fünfziger Jahren, einstigem Sammelpunkt der sogenannten Bloomsbury Irregulars. Die drei Orte fügten sich in seinem Geist zu einem einzigen zusammen, zu ein und demselben Versuchsgelände für unerprobte Tugenden. Das Trugbild wich, er läutete dreimal kurz, einmal lang, fragte sich, ob sie wohl das Signal geändert hatten, bezweifelte es aber; machte sich weiterhin Gedanken um Willem oder um Stella oder vielleicht nur um das Kind. Er hörte das nahe Knacken von Bo­denbrettern und vermutete, daß ihn jemand aus einem Fuß Ent­fernung durch das Guckloch musterte. Die Türe ging schnell auf, er trat in einen düsteren Raum und fühlte sich von zwei seh­nigen Armen liebevoll umfaßt. Er roch Hitze und Schweiß und Zigarettenrauch, und ein unrasiertes Gesicht preßte sich gegen seines - rechte Wange, linke Wange, wie bei einer Ordensverleihung -, nochmals linke Wange, als Beweis besonderer Zunei­gung.

»Max«, murmelte Mikhel in einem Ton, der für sich genommen schon ein Requiem war. »Sie sind gekommen. Ich bin froh. Ich hatte gehofft, aber nicht gewagt, damit zu rechnen. Ich habe trotzdem auf Sie gewartet. Den ganzen Tag, bis jetzt. Er liebte Sie, Max. Sie waren für ihn der Beste. Hat er immer gesagt. Sie waren seine Inspiration. So drückte er es aus. Sein großes Bei­spiel.«

»Tut mir leid, Mikhel«, sagte Smiley. »Ehrlich leid.«

»Wie uns allen, Max. Wie uns allen. Unsagbar. Aber wir sind Soldaten.«

Er war gepflegt und drahtig, jeder Zoll der Major der Kavallerie, der er vorgab, gewesen zu sein. Seine braunen, von der Nacht­wache geröteten Augen waren dekorativ umschattet.

Er trug einen schwarzen Blazer, den er wie einen Husaren-Dolman über die Schultern geworfen hatte, und schwarze, auf Hochglanz polierte Stiefel, die wirklich zum Reiten hätten die­nen können. Sein graues Haar war militärisch korrekt geschnit­ten und sein üppiger Schnurrbart sorgfältig gestutzt. Sein Ge­sicht wirkte auf den ersten Blick jugendlich, und erst wenn man genauer auf die zahllosen winzigen Faltendeltas in der bleichen Haut sah, gab es Mikhels sechzig oder noch mehr Jahre preis. Smiley folgte ihm schweigend in die Bibliothek. Sie nahm die ganze Breite des Hauses ein und war durch Nischen in ent­schwundene Länder unterteilt - Lettland, Litauen und - nicht zuletzt - Estland. In jeder Nische waren ein Tisch und eine Flag­ge, und auf einigen Tischen lagen, spielbereit, Schachbretter, doch es wurde nicht gespielt, so wenig wie gelesen.

Es war niemand da bis auf eine blonde, ausladende Frau in den Vierzigern, die einen kurzen Rock und Söckchen trug. Ihr gel­bes, an den Wurzeln dunkles Haar war zu einem strengen Kno­ten geschlungen. Sie hatte sich neben einem Samowar eingenistet und las ein Reisemagazin, dessen Titelseite Birkenwälder im Herbst zeigte. Als Mikhel in Höhe ihres Tisches angekommen war, blieb er stehen und schien ihr seinen Begleiter vorstellen zu wollen, doch beim Anblick Smileys flammte in ihren Augen in­tensiver, unmißverständlicher Zorn auf. Sie sah ihn an, ihr Mund verzog sich verächtlich, und ihr Blick glitt von ihm weg zu einem regenverschmierten Fenster. Ihre Wangen glänzten vom Wei­nen, und unter ihren Augen mit den schweren Lidern waren dunkle Flecke.

»Elvira liebte ihn auch sehr«, bemerkte Mikhel erklärend, als sie außer Hörweite waren. »Er war für sie wie ein Bruder. Er instru­ierte sie.«

»Elvira?«

»Meine Frau, Max. Nach vielen Jahren haben wir geheiratet. Ich war lange dagegen. Es ist nicht immer gut für unsere Arbeit. Aber ich war ihr diese Sicherheit schuldig.«

Sie setzten sich. Um sie herum an den Wänden hingen Märtyrer vergessener Bewegungen. Dieser hier im Gefängnis, durch die Stäbe hindurch fotografiert. Jener dort, tot, und wie bei Wladi­mir hatte man das Tuch weggezogen, um sein blutiges Gesicht freizumachen. Ein dritter, der eine verbeulte Partisanenmütze und ein langläufiges Gewehr trug, lachte in die Kamera. Vom anderen Ende des Raums hörten sie eine kleine Explosion, ge­folgt von einem kräftigen, russischen Fluch. Elvira, Mikhels Gattin, zündete den Samowar an.

»Tut mir leid«, wiederholte Smiley.

Feinde fürchte ich nicht, Willem, dachte Smiley. Aber Freunde fürchte ich gewaltig.

Sie waren in Mikhels Privatnische, die er sein Büro nannte. Ein altmodisches Telefon stand auf dem Tisch neben einer Reming­ton Schreibmaschine aus der Gründerzeit, die gleiche, wie sie Wladimir besessen hatte. Jemand mußte einmal eine Menge da­von aufgekauft haben, dachte Smiley. Aber das Paradestück war ein handgeschnitzter Sessel mit gedrechselten Beinen und einem kaiserlichen Wappen, das auf die Hinterseite der Rückenlehne gestickt war. Mikhel saß steif darauf, Knie und Stiefel zusam­mengepreßt, wie ein Vizekönig, der für diesen Thron zu klein war. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und hielt sie wie eine Fackel senkrecht, mit dem brennenden Ende nach oben. Über ihm hing eine Rauchwolke gleich einem Regenschleier, genau wie Smiley es in Erinnerung hatte. Im Papierkorb bemerkte Smi­ley einige weggeworfene Nummern von Sporting Life.

»Er war ein Führer, Max, er war ein Held,« erklärte Mikhel. »Wir müssen versuchen, seinem Mut und seinem Beispiel nach­zueifern.« Er machte eine Pause, wie um Smiley Gelegenheit zu geben, den Ausspruch zur Veröffentlichung niederzuschreiben. »In derartigen Fällen fragt man sich natürlich, wie es denn wei­tergehen soll. Wer ist wert, ihm nachzufolgen? Wer hat seine Statur, sein Ehrgefühl, sein Sendungsbewußtsein? Glücklicher­weise ist unsere Bewegung ein Prozeß, der sich dauernd weiter­entwickelt. Sie ist größer als jeder Einzelne, größer sogar, als jede Gruppe.«