Zu ihrem Erstaunen kam der Abgesandte des Generals noch am gleichen Abend.
Er klingelte dreimal, wie brieflich angekündigt, mußte aber gewußt haben, daß sie zuhause war - mußte gesehen haben, wie sie heimkam und Licht machte -, denn sie hörte nur den Deckel am Briefschlitz klappern, lauter als sonst, und als sie zur Tür ging, sah sie das abgerissene Stück Ansichtskarte am Boden liegen, an derselben Stelle, die sie so oft mit den Augen abgesucht hatte, während sie sich nach einer Botschaft von ihrer Tochter Alexandra sehnte. Sie hob es auf und lief ins Schlafzimmer zu ihrer Bibel, wo ihre eigene Hälfte bereitlag, und tatsächlich, die Teile paßten zusammen, Gott war auf ihrer Seite, der heilige Josef hatte sich für sie verwendet. (Aber trotzdem, was für ein nutzloser Unsinn, das Ganze!) Und als sie ihrem Besucher die Tür öffnete, glitt er an ihr vorbei wie ein Schatten: ein Wichtelmännchen in einem schwarzen Mantel mit Samtaufschlägen am Kragen, der ihm das Aussehen eines Operettenverschwörers verlieh. Sie haben mir einen Zwerg geschickt, um einen Riesen zu fangen, war ihr erster Gedanke. Er hatte geschwungene Brauen und ein zerfurchtes Gesicht, und über seinen spitzen Ohren standen hochgekringelte schwarze Haarbüschel, die er mit seinen kleinen Handflächen vor dem Dielenspiegel glatt strich, als er den Hut abnahm - so munter und komisch, daß die Ostrakowa bei anderer Gelegenheit laut aufgelacht hätte über all das Leben, den Humor und die Ungeniertheit, die er ausstrahlte.
Doch nicht heute abend.
Heute abend trug er einen Ernst zur Schau, der, wie sie sofort spürte, nicht seiner Natur entsprach. Heute abend machte er ganz auf eiligen Geschäftsmann, der gerade seinem Flugzeug entstiegen war - sie hatte auch den Eindruck, er sei nur zu einer Stippvisite in der Stadt: so adrett, so leichtes Gepäck, heute abend wollte er nur zur Sache kommen.
»Haben Sie meinen Brief sicher erhalten, Madame?« Er sprach russisch, schnell, mit estnischem Akzent.
»Ich dachte, es sei der Brief des Generals gewesen«, erwiderte sie, wobei sie unwillkürlich eine gewisse Strenge in ihren Tonfall legte.
»Ich habe den Brief für ihn überbracht«, sagte er ernst. Er grub in einer Innentasche herum, und sie hatte das entsetzliche Gefühl, er werde, wie der große Russe, ein glattes schwarzes Notizbuch zücken. Statt dessen brachte er jedoch ein Foto zum Vorschein, und ein Blick darauf genügte: die bleichen verschwitzten Züge, der Ausdruck der Verachtung für alles Weibliche, nicht nur für sie, die Mischung aus Gelüst und Feigheit.
»Ja«, sagte sie. »Das ist der Fremde.«
Als sie sah, wie er aufatmete, wußte sie sogleich, daß er zu den Leuten gehörte, von denen Glikman und seine Freunde als »einer von uns« sprachen - nicht unbedingt ein Jude, aber ein ganzer Kerl. Von diesem Augenblick an nannte sie ihn im Stillen den »Magier«. In ihrer Vorstellung waren seine Taschen voll verblüffender Tricks, und in seinen fröhlichen Augen tanzten Zauberlichter.
Die halbe Nacht redete die Ostrakowa mit dem Magier, so hingegeben, wie sie es nur zu Glikmans Zeiten getan hatte. Zuerst erzählte sie alles wieder von vorne, erlebte es nochmals in allen Einzelheiten und entdeckte zu ihrer Überraschung, wie lückenhaft ihr Brief war, den der Magier auswendig zu kennen schien. Sie erklärte ihm ihre Gefühle und ihre Tränen; ihren schrecklichen inneren Aufruhr; sie beschrieb die Tölpelhaftigkeit ihres schwitzenden Peinigers. Er war so unfähig - sagte sie immer wieder verwundert - als wäre es sein erstes Mal gewesen, sagte sie - keinen Schliff, kein Selbstvertrauen. Komisch, sich den Teufel als Stümper vorzustellen! Sie erzählte von dem Schinkenomlett mitfrites und dem Bier, und er lachte; von ihrem Eindruck, daß dieser Mann gefährlich schüchtern und verklemmt sei - kein Frauenfreund. Meist stimmte der kleine Magier ihr herzlich zu, als seien er und der Rothaarige alte Bekannte. Sie vertraute dem Magier völlig, wie der General es ihr nahegelegt hatte; sie war des ewigen Argwohns müde. Sie redete, dachte sie später, so rückhaltlos wie damals mit Ostrakow in ihrer Heimatstadt, als die beiden ein junges Liebespaar gewesen waren, während der Nächte, da sie glaubten, es wäre jeweils die letzte in ihrem Leben, aneinandergeklammert, unter dem näherrückenden Kanonendonner der Belagerer; oder mit Glikman, während sie darauf warteten, daß »sie« an die Tür hämmern und ihn wieder ins Gefängnis zurückbringen würden. Sie sprach zu seinem alerten und verstehenden Blick, zu dem Lachen in ihm, zu der Toleranz, die, wie sie sofort spürte, der bessere Teil seiner unorthodoxen und vielleicht antisozialen Natur war. Und je länger sie sprach, um so mehr sagte ihr der weibliche Instinkt, daß sie in ihm eine Leidenschaft schürte - keine Liebe in diesem Fall, sondern einen scharfen und präzisen Haß, der auch der kleinsten Frage, die er stellte, Durchschlagskraft und Treffsicherheit verlieh. Was und wen er genau haßte, konnte sie nicht sagen, aber sie fürchtete für jeden, sei es nun der rothaarige Fremde oder sonstwer, der das Feuer dieses kleinen Magiers auf sich gezogen hatte. Glikmans Leidenschaft, so erinnerte sie sich, war eine allgemeine, eine diffuse Leidenschaft gewesen, die sich fast zufällig auf eine Reihe von Symptomen konzentrierte, kleine oder große. Die des Magiers aber war einstrahlig, gezielt auf einen Punkt gerichtet, den sie nicht sehen konnte.
Als der Magier sie schließlich verließ - mein Gott, dachte sie, es ist ja beinah Zeit, zur Arbeit zu gehen! - hatte die Ostrakowa ihm jedenfalls alles gesagt, was sie zu sagen hatte, und der Magier hatte seinerseits in ihr Gefühle geweckt, die seit Jahren, bis zu dieser Nacht, ausschließlich der Vergangenheit angehört hatten. Während sie benommen die Teller und Flaschen wegräumte, brachte sie es, trotz der Komplexität ihrer Gefühle für Alexandra, für sich selbst und für ihre beiden toten Männer fertig, über ihre weibliche Torheit zu lachen.
»Und dabei kenne ich nicht einmal seinen Namen!« sagte sie laut und schüttelte spöttisch den Kopf. »Wie kann ich Sie erreichen?« hatte sie gefragt. »Wie kann ich Sie benachrichtigen, wenn er wieder auftaucht?«
Gar nicht, hatte der Magier geantwortet. Aber sollte die Sache sich zuspitzen, dann könne sie wieder an den General schreiben, unter seinem englischen Namen und einer anderen Adresse. »Mr. Miller«, sagte er ernst, mit Betonung auf der zweiten Silbe, und gab ihr eine Karte, auf der eine Londoner Adresse in Großbuchstaben von Hand gedruckt war. »Aber seien Sie diskret«, mahnte er. »Sie müssen sich indirekt ausdrücken.«
An diesem ganzen Tag und noch viele weitere Tage hindurch bewahrte die Ostrakowa zuvorderst in ihrem Gedächtnis das letzte, schwindende Bild des Magiers, wie er von ihr fort und das schlecht beleuchtete Treppenhaus hinabglitt. Seinen letzten flammenden Blick, voll angespannter Entschlossenheit und Erregung: »Mein Wort, ich pauke Sie heraus. Und Dank, daß Sie mich zu den Waffen riefen.« Seine kleine weiße Hand, die auf dem breiten Treppengeländer hinunterflatterte, Runde um Runde, in einer sich verengenden Spirale von Abschiedsgrüßen, wie ein Taschentuch aus einem Eisenbahnfenster winkt, bis es in der Dunkelheit des Tunnels verschwindet.
2
Das zweite der beiden Ereignisse, die George Smiley aus seinem Ruhestand holten, fand ein paar Wochen später im Frühherbst desselben Jahres statt: nicht in Paris, sondern in Hamburg, einstmals Freie und Hansestadt, jetzt fast erdrückt unter der Last seines Wohlstands; und doch verglüht der Sommer nirgends so glanzvoll, wie an den gold-orangenen Ufern der Alster, die bis jetzt noch niemand trockengelegt oder zubetoniert hat. George Smiley bekam natürlich nichts von dieser melancholischen Herbstpracht zu sehen. Er schuftete an dem fraglichen Tag selbstvergessen und mit all der Überzeugung, die er aufbringen konnte, an seinem gewohnten Tisch in der London Library am St. James's Square vor sich hin, und alles, was er durch das Schiebefenster des Lesesaals sehen konnte, waren zwei spindlige Bäume. Die einzige Beziehung zu Hamburg, die er hätte anführen können - wäre ihm später eingefallen, einen Zusammenhang herzustellen, was jedoch nicht der Fall war-, lag auf dem parnassischen Feld deutscher Barocklyrik, denn er schrieb damals an einer Monographie über den Barden Opitz, redlich bemüht, zwischen echter Leidenschaft und oder literarischer Konvention der Zeit zu unterscheiden.