»Ja«, sagte Roswitha Gansauge, »das ist wirklich sehr traurig, Gustavo lag als kleiner Hund in einer Mülltonne. Ich ging vorbei und hör-te, wie er >Hilfe! < rief, und seitdem sind wir Freunde.«
»Wie kommt denn ein kleiner Hund in eine
Mülltonne?«, fragte ich und streichelte den seltsam gemusterten Kopf von Gustavo.
»Tja«, sagte Roswitha Gansauge, »das frage ich mich auch. Von allein und freiwillig jedenfalls nicht, wenn du verstehst, was ich meine.«
Ich sah wieder aus dem Fenster, und da waren grüne Wiesen mit Schafen und Kühen, und ich überlegte, ob Roswitha Gansauge mit denen auch reden korinte und ob mein Orikel Hans wohl wusste, dass Tiere eine Sprache haben.
Ich fragte: »Kann ich nur mit Gustavo reden, oder werde ich die Sprache der Tiere auf dem Hof von Onkel Hans auch verstehen?«
»Natürlich wirst du das«, sagte Roswitha Gansauge, »du musst nur etwas Geduld haben und genau hinhören, dann verstehst du sie. Da bin ich ganz sicher.« Und sie strahlte mich an, Gustavo wedelte, und mir wurde ordentlich heiß vor Glück, das weiß ich noch, als wäre es gestern gewesen, und dabei ist es vierundvier-zig Jahre her.
Sonst weiß ich nur noch von der Fahrt, dass wir die ganze Zeit geredet haben. Ich erzählte
Ich ging vorbei und hörte, wie er »Hilfe« rief.
von meiner Mutter, die mich nur so ungern hatte reisen lassen, von Onkel Hans, von den Hühnern mit den komischen Namen und von Gürtelchen. Wir überlegten, wie die andere Ziege wohl heißen würde, und Roswitha Gansauge fragte:
»Wie heißt eigentlich deine Mutter?«
»Gertrud«, sagte ich und wunderte mich dar-
über, dass sie mich so etwas fragte.
Später auf dem Bauernhof zeigte mir Onkel Hans das Gürtelcheri mit seinem Streifen am Rauch und eine kleine, freche hellbeige Ziege, die immer vor sich hin meckerte.
»Was glaubst du, wie die heißt?«, fragte er mich, und ich sagte: »Gertrud.«
Er war erstaunt und wollte wissen, wie ich darauf so schnell gekommen sei und ich antwortete:
»Sie hat es mir gerade gesagt.«
Und tatsächlich war mir so, als sähe mich die Ziege an, sagte »Sonst noch was« und mek-kerte »Gerherherhertrud!«.
Meine Butterbrote teilte ich mit Gustavo, der bald neben mir auf der Bank saß, und Ros-
witha Gansauge erzählte mir von einem Arzt, den sie mal gekannt hatte und der Hühner-bein geheißen hatte, dagegen, sagte sie, war ja wohl Gansauge noch gar nichts. Die Zeit verging so schnell, dass ich fast traurig war, als der Zug tatsächlich um 16.23 Uhr da ankam, wo Onkel Hans mich abholen sollte.
Er stand auf dem Bahnhof in grünen Cordhosen, mit einem weißen Hemd und einer Weste, er hatte eine Zigarre; im Mund und winkte und lachte. Roswitha Gansauge sah uns aus dem Fenster bei der Begrüßung zu und rief: »Alles Gute!«, und Onkel Hans fragte: »Wer ist das denn?«
»Das ist Roswitha Gansauge«, sagte ich, »sie reist mit Gustavo noch eine Station weiter, und stell dir vor, sie kann ...«
»Pssst!«, rief Roswitha Gansauge und legte den Finger auf die Lippen. »Das ist erst mal ein Geheimnis!«
Dann fuhr der Zug ab, sie winkte, rief noch:
»Vielleicht komme ich mal vorbei!«, und wir sahen ihr nach und winkten auch.
»Was kann sie?«, fragte Onkel Hans, und ich sagte: »Nein, das ist erst mal ein Geheimnis.«
In seinem alten Auto fuhren wir durch ein Dorf und einen kleinen Wald, über einen holp-rigen Feldweg an Wiesen vorbei, auf denen Blumen blühten, die ich noch nie gesehen hatte (was sieht man schon im Ruhrgebiet!), und dann hielten wir vor einem kleinen Haus mit Zaun, Stall und Garten. Ein Hund sprang am Zaun hoch und bellte: »Endlich! Endlich! Endlich!«
»Er freut sich, dass ich komme«, sagte ich glücklich.
Und Onkel Hans sagte: »Natürlich. Tun wir alle« und freute sich seinerseits, dass ich gar keine Angst hatte.
Der Hund sprang an Onkel Hans hoch, leck-te ihn ab, und dann presste er sich fest an mein Bein, wedelte mit dem Schwanz und schnüffelte sehr aufgeregt an meinen Händen.
»Ja«, sagte ich, »das riecht alles nach Gustavo, dem Hund aus der Mülltonne, da hast du es besser.«
»Er ist aus dem Tierheim«, sagte Onkel Hans,
In seinem alten Auto fuhren wir durch ein Dorf.
»er heißt einfach nur Hund. Niemand wollte ihn haben, weil er schon älter ist. Mir ist er gerade recht, was, Hund, wir zwei alten Kerle halten zusammen.«
Und der Hund bellte: »Aber ich hab Rheuma und du nicht!«
»Er hat Rheuma«, sagte ich, und Onkel Hans fragte verblüfft: »Wie kommst du darauf?«
»Nur so«, sagte ich, und Onkel Hans sah mich sehr merkwürdig an.
»Weißt du«, sagte er, »manchmal geht er so schwer und humpelt und kommt nach dem Liegen nicht richtig hoch, kann wirklich sein, dass du Recht hast. Ich werde mal den Tier-arzt fragen.«
Und ich war stolz und glücklich und dachte: Donnerwetter, es klappt!
Ehe wir ins Haus gingen, musste ich alle Tiere begrüßen � die Schafe, den Hahn, die Hühner, den wunderbaren alten Esel, der Erwin hieß.
»Erwin!«, iahte der Esel, »so ein Unfug, ich bin fünfzehn Jahre alt, und immer hieß ich Igor, und jetzt auf einmal soll ich Erwin heißen!«
»Du solltest ihn Igor nennen, Onkel Hans«, schlug ich vor, und Onkel Hans sagte:
»Igor? Warum? Findest du Erwin nicht schön? So hieß ein Arbeitskollege von mir, und der war ein ziemlicher Esel.«
»Versuch�s mal«, sagte ich, und Onkel Hans kraulte den Esel zwischen den Ohren und sagte:
»Möchtest du lieber Igor heißen?«
Der Esel schlug heftig mit dem Schwanz, ruckte den Kopf zu Onkel Hans herum, sah ihn mit seinen melancholischen Augen an und iahte laut.
»Tatsächlich«, sagte Onkel Hans, »du hast Recht, er will lieber Igor heißen. Na, dann nennen wir ihn eben Igor.«
Und er brüllte dem Esel ins Ohr: »Also, Erwin, ab sofort heißt du Igor!«
Und der Esel schrie laut.
»Was sagt er?«, fragte mich Onkel Hans, und ich antwortete:
»Dass du nicht so schreien musst, er ist ja nicht schwerhörig.«
Onkel Hans setzte sich ins Gras und lachte.
»Du kommst mir ja hier gerade recht«, sagte er,
»bist kaum da, schon erzählst du mir, was meine Tiere denken. Das ist ja eine tolle Sache.«
Das fand ich auch, und ich konnte es mir vor allem überhaupt nicht erklären. Aber es stimmte, ich verstand einfach, was die Tiere sagten, und ich war Roswitha Gansauge dank-bar dafür, dass sie mich darauf gebracht hatte, richtig hinzuhören.