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Sozialistisches Wohnen im ehemaligen Zentrum Ostpreußens - njet. Kneiphof sowie sein nördliches und südliches Ufer sind Parks und fast hübsch, gäbe es nicht tiefe Löcher und herausragende rostige Metallstücke im Gehsteig, die jeden zwingen, die Augen am Boden zu halten. Zu sehen gäbe es als Blickfang von nahezu allen Winkeln aus das Dom Sowjetos, das Haus der Räte, ein Hochhaus, das mit seiner Macht aus Stahlbeton darüber wacht, dass sich die alten Geister in seiner Umgebung auch ja nicht mehr regen. Allein, es ist selbst ein Spukhaus, seit 1970 steht es leer, stiert mit blinden Augen über eine kahl geschlagene Umgebung. Im Inneren stöhnen und knarzen die Untoten der Sowjetunion, klagen über den vergeblichen Versuch, aus Kaliningrad etwas Großartiges zu machen. Allein, es hört sie niemand, da der umgebende Zentralplatz mittlerweile mit einem Zaum abgesperrt ist.

Die Deutschen sind jedenfalls ausgetrieben und mit ihnen alles Deutsche, inklusive der Schrift, denn alles wird ausschließlich kyrillisch angeschrieben, auch über dem Portal der einstigen Kant-Universität, wo jetzt „Universitetska“ steht. Kyrillisch, natürlich. In Kaliningrad kocht kein deutsches Restaurant mehr auf, kein deutsches Buchgeschäft verkauft Kant im Original, kein Krämer hat hinter seiner Theke selbst importierte Pfanni-Knödel und Schwartau-Marmeladen stehen. In den Tiefkühltruhen der Supermärkte liegen Pelmeni, in verschiedenen Großpackungsgrößen oder sogar offen zum selbst Abfüllen, in den Abteilungen mit den Dosengerichten stehen Borschtsch und Soljanka. Im Knabberregal gibt es baltischen Trockenfisch. Wenn schon exotisch, dann essen die Kaliningrader Russen gerne beim Asiaten oder beim Litauer, „Brikas“ heißt einer dieser Imbisse. Der serviert Zeppelinai, schiffchenförmige, fleischgeladene Geschosse aus Kartoffelteig.

Ein Hauch Sowjetunion weht noch durch die verkehrsgünstigen Hauptstraßen, die sich eitel Prospekt nennen, verwirbelt sich an den gelben Kvass-Tankwägelchen, vor denen die bekopftuchten Verkäuferinnen kauern, rüttelt an den rostigen Straßenbahnwaggons. Im Lebensmittelmarkt „Central Rynok“ heult der Geist nur leise, denn die Berge von Äpfeln, die Körbe voller Kirschen, Trauben, Aprikosen, Dill und Erdbeeren, die glänzenden Kohlköpfe und Fleischtomaten, die Honiggläser, die zu Pyramiden aufgestapelten Würste, all das in seiner Üppigkeit ist so gar nicht sowjetisch. Nur dann und wann lugt der alte Geist hinter den Papierhäubchen der Verkäuferinnen hervor, wenn sie mit der bloßen Hand und missmutiger Miene in das Frischkäsefässchen fahren und die Käsekrümel in ein Plastiktütchen stopfen.

Doch nicht etwa aus der Oblast Kaliningrad, jener tapferen, immer noch russischen Exklave an der Ostsee, stammt die Fülle des Marktes, sondern aus Polen, Litauen und Weißrussland sind die Leckereien herangekarrt. Das behaupten zumindest die, die der alten UDSSR hinterhertrauern, da es für sie ein Früher bedeutet, in dem wirklich alles besser war. Die Felder um Kaliningrad liegen brach, seit Glasnost und Perestroika als Sturm über den Osten wehten. Noch stehen die Betonhallen der Kolchosen, aber ihre Fenster sind ebenso blind wie die des Dom Sowjetos, auf den Dächern nisten Störche. Als großes Grasmeer wogen gelbe und grüne Halme über das Land, als Schaumkronen schweben darüber lila Lupinen, von Horizont zu Horizont. In den Dörfern hocken die Männer mit Flaschen in der Hand vor windschiefen Häusern und stieren auf den Boden. Die Höfe der ehemaligen deutschen Bauern stehen als Ruinen zwischen den Hütten, weil hier nicht einmal ein Bulldozer vorbei gekommen ist. Das Aussehen der bewohnten und der vor 60 Jahren verlassenen Katen hat sich erschreckend angenähert. Für den größten Teil des Landes ist seit der Wende kein Aufschwung in Sicht, sondern ein zweiter Niedergang.

Die Reichen aus Moskau sind in Dörfern, die einst Mülsen und Friedrichshof hießen, noch nicht gelandet, wohl aber auf der Kurischen Nehrung, in Swetlogorsk, das einmal Cranz war, und in Selenogradsk, das einst Rauschen hieß. Dort am Meer sind sie mit riesigen Luxusvillen zwischen den windschiefen Hütten und betonierten Sowjet-Erholungs-Bunkern aufgeschlagen, haben eilig Elektrozäune und monströse Absperrungen gepflanzt und davor noch junge Männer mit kahl rasierten Köpfen und stechendem Blick gestellt. Sotchi des Nordens darf sich Swetlogorsk inoffiziell nennen, heißt in Wirklichkeit aber „Grüne Stadt“. Tatsächlich ein zauberhaftes Erholungsgebiet, wenn man aus Kaliningrad kommt. Der ganze Ort ist baumbeschirmt, das alt-sowjetische Kurhaus bröselt nur ein kleines bisschen und zwischen den Bäumen haben sich alte Kaiserzeitvillen vor den Geisterheeren der vergangenen 70 Jahre versteckt - wieder propper angestrichen, die meisten jedenfalls, und in den allermeisten Fällen bewohnbar. Eisverkäufer und Bernsteinhändler wetteifern mit Karussellbetreibern und Wurfbudenonkeln um die Rubel der mit der Elektritschka, der einstigen kaiserlichen Samlandbahn, angerollten Städter. Unterm Blätterdach sehen sogar die Sowjetmosaiken an den Betonwänden nett aus. Dabei ist das Meer oben im Ort noch gar nicht in Sicht. Eine breite Treppe führt zu Strand, Flanierpromenade und Lokalen. Das Grandhotel serviert Bier an ordentlich frisierte Herren in Echtlederjacken, Kaffeekännchen an Damen mit Gesundheitsschuhen. Mit Tupperdosen auf dem Sand sitzt nur, wer vom russischen Aufschwung erst wenig mitbekommen hat.

Und da ist es, wie eine Erscheinung, aber ganz leibhaftig zwischen Eisstand und dem altsowjetischem Fahrstuhlturm des Militärsanatoriums, mit Coca-Cola-Schirmen und Paulaner-Leuchtschild: das Restaurant „Seestern“. Das erste lebendige Deutsche, das sich in Ostpreußen finden lässt. Zwar spricht die Kellnerin kein Deutsch, wohl aber die Speisekarte. „Eisbein (geschmort oder gekocht)“ bietet sie an, „Wiener Schnitzel, Pommes Frites und Gemüsesalat“, „Jägerschnitzel“, „Kassler“ und „Königsberger Klopse“. Was haben diese Küchenklassiker bloß an einem Ort verloren, der so tief in Russland liegt wie Swetlogorsk? Und doch ist der „Seestern“ da, mitten im Leben, mitten an der Promenade, man kehrt dort als urlaubender Russe ein, bestellt Tee und Schnitzel und freut sich, dass heute alles ein bisschen besser ist. Die Klopse schmecken grauenhaft. Vom Liegen haben sie flachgedrückte Stellen. In der Sauce ist mehr Mehl als Sahne - und eine einzige Kaper. Dazu gibt’s drei Bällchen Kartoffelpüree, ein welkes Ästchen Dill und einen Salat. Paulaner Bier ist aus, aber Steiger Bier aus der Slowakei ist im Angebot. Das Deutsche, es ist wirklich gründlich vertrieben worden aus Ostpreußen.

Vor einigen Jahren noch hätte die Geschichte über die Königsberger Klopse hier geendet, wahrscheinlich mit Zitaten von einem greinenden Greis aus der Abteilung Zeitzeugen, der über die verlorene Heimat jammert und dessen Frau natürlich das allerbeste Rezept für Königsberger Klopse von „drieben mitjebracht“ hat. Ein Rezept mit Fisch im Fleischteig, „janz andert“, als die Klopse, die Supermärkte und Kantinen auftischen. Wie die Original-Klopse schmecken, weiß kaum jemand, weil das Ostpreußische sogar in Bundesrepublikdeutschland nur noch ein Gespenst ist. Das Ostpreußische zog zusammen mit den Ostpreußen fort und ging, manchmal früher, manchmal ein paar Jahrzehnte später, in der Bundesrepublik Deutschland und zunächst auch in der DDR auf.

Während das Ostpreußische ging, kam erstaunlicherweise das Deutsche auf anderen Wegen nach Kaliningrad. Aus Alma Ata in Kasachstan etwa zog 1992 Ljudmila an die Ostsee. Russlanddeutsche, aber keine Ostpreußin. Im März 1993 eröffnete sie zusammen mit anderen deutschsprachigen Müttern aus Sowjet-Gebieten einen deutschen Kindergarten. Sie unterrichtet Deutsch an einem Gymnasium, spielt mit den Schülern Theater auf Deutsch und arbeitet zusätzlich als Rezeptionistin in der evangelischen Kirche von Kaliningrad. Denn auch die gibt es noch, obwohl fast alle evangelischen Ostpreußen vertrieben wurden. Auch der Deutsche Viktor, der Wirt des „Seestern“ und letzter Hüter der Klopse, ist kein Ostpreuße, sondern kam in den 90ern von der Wolga an die Ostsee, sagt Ljudmila. Die deutsche Gemeinde Kaliningrads ist mit den vielen Neuankömmlingen groß genug, dass es ein „Deutsch-Russisches Haus“ gibt, sehr schön, fast nobel an einem kleinen See im Osten der Stadt gelegen und von einem privaten Wachdienst betreut. Hier dürfen die deutschsprachigen Kinder zum Sprach-Sommerlager und die Alten zum SprachStammtisch kommen, oder es erzählt ein deutschsprachiger Russe in einem Vortrag etwas über Kulturgüter als Opfer von bewaffneten Konflikten.