„Unsere Kathedrale“ nennt Ljudmila die brandneue und immer noch nicht ganz fertige, aber mit goldenen Kuppeln glänzende, orthodoxe Kirche am ebenso neuen Hauptplatz, dem „Platz des Sieges“, dessen Name offen lässt, wer denn Sieger ist. Vermutlich sind es der Kapitalismus und die neue, baltische Identität von Kaliningrad. Natürlich weht die russische Fahne über dem immer noch streng sozialistisch geschminkten Rathaus, aber nebenan, im noch von den Deutschen gebauten Prachtbahnhof, wo heute die Elektritschka in die Seebäder losbummelt, hocken die internationalen Finanzdienstleister. Im „Europa-Center“, mit dem „Mega-Zentr“ und anderen mehr oder weniger edlen Shoppingbuden eines der beliebtesten Ziele im neuen Zentrum, wird ganz deutlich, dass Europa Konsum bedeutet und Marken, auch wenn die vielleicht sogar schon wieder aus Amerika kommen oder allesamt in Indien und China fertigen lassen. Im „Europa-Center“ ist das Deutsche so selbstverständlich wie alles andere, das schön ist, wertig und für die Russen unheimlich viel Geld kostet. Puma, Adidas, Esprit, Tamaris, da sind sie alle, aber es ist davon auszugehen, dass die wenigsten Kunden im „Wrangler-Store“ wissen, dass die gar nicht weit entfernte Uliza Chernjachowskowo früher Wrangelstraße hieß, wie in Stadtplänen für deutsche Sehnsuchtstouristen verzeichnet ist, benannt nach einem alten baltischen Aldelsgeschlecht. Nur die allerwenigsten werden zudem gut genug Englisch können, um zu wissen, was „Wrangler“ im Jeansland Amerika eigentlich bedeutet, nämlich Cowboy.
Das Deutsche ist heute zugleich Dämon der Vergangenheit und Geist der Verheißung, und als letzterer ausgesprochen willkommen. Wenn auch noch keine Firma gewagt hat, Königsberger Klopse als Fertiggericht nach Kaliningrad zu exportieren, so sind die Regale der hochpreisigeren Supermärkte dennoch vollgestopft mit teutonischen Produkten. Keiner fürchtet, hinter all den Nivea Gesichtspflegeprodukten, den Schachteln mit Reber-Pasteten, den Löwenbräuflaschen, Persil-Paketen, den Lorenz-Chips und Hunde-Schmackos könnten die Trolle des Revisionismus hervorlugen. Hackfleischklopse? Heißen jetzt Kotaeti Cotschyie und werden in der Pfanne gebraten. Eine Bier- und eine Wodkafirma haben dafür Produkte unter dem Namen „Königsberg“ herausgebracht. Eine junge HipHop-Gruppe nennt sich zukunftsweisend „König City Breakers“. Das sind keine Geister, sondern ihre Abbilder, nämlich so, wie die Kaliningrader die alten Geister sehen wollen. Harmlos, konsumierbar, in leuchtenden Farben und möglichst modern. Genau in diesem Stil haben sie eine Häuserzeile namens „Fischerdorf“ direkt am Pregel gebaut. Die Häuser sind bonbonfarben, das grobe Fachwerk ein nicht getarntes Fake, aber der Spielplatz ist groß, ein Café gibt es und eine Touristeninformation, die meistens geschlossen ist. Die Kaliningrader finden dieses aufgebaute Stück Alt-Königsberg spitze, es ist Erinnerung und Zukunft zugleich - und völlig geisterfrei, weil sie es sich selbst gebaut haben. Da mögen die Konservatoren und Historisierer der internationalen Stadt-Wiederaufbauer-Szene noch so laut heulen und zähneklappern.
JAFFA CAKES
Warum Tel Aviv von oben bis unten nach Orangen riecht
Die Sonne steht schon tief, daher leuchtet der Strand von Tel Aviv besonders golden und die ansonsten betonweißen Hotelhochhäuser haben einen versöhnlichen Sepia-Ton angenommen. Es ist die Stunde, in der junge Tel Aviver aus den Büros kommen und sich an den Strand setzen, sich eine Wasserpfeife oder ein Bier genehmigen. In der junge Mädchen nach den knackigen Volleyballspielern vor dem „Hotel Dan“ Ausschau halten und reifere, einsame Mädchen ihren Hund am Wasser spazieren führen, leise hoffend, angesprochen zu werden. Denn es ist auch die beste Stunde, um eine Begleitung für den Abend kennen zu lernen, egal wie alt man ist und wie man aussieht. Der durchtrainierte Soldat mit den schwarzen Locken flirtet mit der blassen, übergewichtigen Touristin, der Rentner in den roten Badeshorts wirft sich in Pose, wenn eine Gruppe amerikanischer Schülerinnen ihn bittet, ein Erinnerungsfoto von ihnen im Bikini zu knipsen, und eine Familie bringt zu jedem Sonnenuntergang ihren behinderten Sohn an den Strand, der dann kreischend in den Wellen hüpft und, bevor die Sonne ganz weg ist, vom Papa trocken gerubbelt wird. Die Stunde vor dem Sonnenuntergang ist der Angelpunkt des Tel Aviver Tages, denn die Hitze hat sich schon hinaus ins Universum verzogen, die Arbeit ist vorbei, und die Nacht, in der getanzt und im Restaurant beisammen gesessen wird, ferngesehen oder die Tante besucht, hat noch nicht begonnen. Der Morgen ist eine ganze Generation weit weg. Nie ist das Leben in Tel Aviv so federleicht und wunderbar wie in dieser Stunde.
Fünf Kilometer weiter südlich, in Jaffa, ist es genau umgekehrt. Wenn hier die grünen Lichter der Minarette zum abendlichen Gebetsruf aufleuchten, herrscht in der Altstadt Hochbetrieb. Man erwacht aus der Siesta, die wegen der Klimaanlagen eigentlich längst überflüssig geworden ist, und summt und brummt durch die Gassen. Der Stau ist nur morgens, wenn die Leute zur Arbeit fahren, ebenso heftig: Eine dicke, nervös hupende, endlose Autoschlange drückt sich durch die schmalen Straßen, es wird aus heruntergekurbelten Fenstern geschimpft, Fußgänger suchen sich ihren Weg, Mofas pflügen durch die Massen. Wer am geparkten Wagen seinen Seitenspiegel nicht freiwillig einklappt, hat hinterher keinen mehr. Während die Besucher vom Altstadthügel aus die Aussicht auf die nunmehr honigfarbene Skyline von Tel Aviv bewundern, den Fischer- und Kanonenbooten auf dem Meer hinterher schauen und über den Platz vor der alten Kirche flanieren, geht es für die Bewohner von Jaffa ums Ganze, nämlich den Einkauf für das Abendessen. Jetzt, sofort, denn wer den halben Tag getrödelt hat, will zumindest wenn’s ernst wird, keine Zeit mehr verlieren. Aus den dünnen, raschelnden Plastiktüten, die sich in Rudeln um die Handgelenke der Einheimischen ballen, ragen Lauchstangen, Büschel frischer Kräuter, und sehr große Sesam-Gebäck-Kringel. Die meisten Geschäfte sind natürlich in der hektischsten Straße, durch die sich die Autos besonders intensiv hupend schieben, wo röhrend Gas gegeben und keifend für die Fußgänger abgebremst wird, und an deren Ende sich die Geister scheiden. Wohin soll es gehen, am Kreisverkehr mit dem alten Uhrturm? In die seit 4000 Jahren bewohnte Altstadt von Jaffa? In die Neustadt, wo hauptsächlich Araber leben und arbeiten - oder doch zurück nach Tel Aviv, der strebsamen Pionier-Siedlung, die sich in nur einem Jahrhundert von ein paar Hütten in den Dünen zur Metropole aufgeschwungen hat und so anders ist als das kleine Nachbardorf Jaffa, das Tel Aviv inzwischen umwachsen hat wie ein Baum manchmal eine Madonna umschließt, die jemand in einem Astloch aufgestellt hat?
Seit biblischer Zeit war Jaffa der große Hafen der Gegend, dann geschlagen von Caesarea, das die Römer weiter nördlich anlegten, und später von Akko, dem Kreuzfahrerhafen, durch den die Eroberer und Glücksritter hinein und die Schätze des Landes mit den Gescheiterten und den reich Gewordenen hinaus geschleust wurden. Früher aber führte kein Weg vorbei an Jaffa, man nannte es Joppe, Yapu und Jafo, baute Mauern gegen die Feinde aus Ägypten, wurde dennoch von Ägypten erobert, bis dann eines Tages die Israeliten vorbeikamen. Noahs Sohn Jafet war der erste, der sich auf dem Felsen an der Küste niederließ, und Plinius wusste noch genau wann: Vierzig Jahre nach der großen Sintflut. Seitdem hat Jaffa viele Gäste und Eroberer kommen und gehen sehen, Phönizier und Philister, Römer und Ägypter, Richard Löwenherz und Saladin, Osmanen und Briten. Geblieben sind die Israeliten, die Araber und einige Christen. Sie alle haben ihre eigenen Sitten mitgebracht und Spezialitäten aus aller Welt, die in den kleinen Lokalen von Tel Aviv und Jaffa nun allen schmecken, die schon da sind, die gerade kommen, eben gehen wollen oder nur einmal vorbei schauen. Im 16. Jahrhundert brachte jemand eine exotische Pflanze mit, eine Art Apfel mit ziemlich harter Schale, der aber ziemlich gut wuchs und ziemlich lecker und erfrischend war, zumal in der Hitze ohne Klimaanlage.