Die Antwort folgt postwendend: „Also, Piccata gibt es schon, aber nur ohne Milanese. Piccata heißt einfach irgend ein Fleisch mit gekochten Tomaten und Petersilie. Ein berühmtes Gericht ist aber Cotoletta Milanese, das ist ganz genau dasselbe wie Wiener Schnitzel, aber sehr berühmt und beliebt.“ Wir verabreden uns zeitnah zum Schnitzelessen in Mailand.
Mailand. Die Schein- und Sein-Stadt. Kein Wunder, dass dort sogar die Schnitzel Kleider tragen, unter falschem Namen in die Welt gehen, ihre wahre Natur unter goldglänzender Panade verbergen. Aber vielleicht ist diese Annahme über die Stadt genau so falsch wie die, dass dort eine Piccata existiert. Die Piccata alla Milanese findet sich ja zumeist in Kantinen oder auch in alpenländischen Ausflugslokalen, ein Schweineschnitzel in einem Teig aus Mehl, Eiern und geriebenem Parmesan, eben gar nicht dasselbe wie ein Wiener Schnitzel, was damit beginnt, dass Letzteres vom Kalb kommt. In Argentinien, noch weiter entfernt vom Sehnsuchtsland Italien, ist die Milanesa gar ein Rinderschnitzel in Semmelbröselpanade, wahlweise mit roter Salsa oder auch mit Spiegelei belegt. In Japan immerhin ist man weltläufig und nennt das in Bröseln panierte Fleisch artig Tonkatsu: Schweine-Kotelett. Dass man damit dem Mailänder Gericht am allernächsten kommt, ist wahrscheinlich purer Zufall. Wüsste man es, hieße der beliebte Snack sicher „Tonomilano“ (die Mailänder würden bei dem Namen eher an Thunfisch denken), aber die Japaner kommen ja zumeist nicht wegen der Speisen nach Mailand, sondern wegen da Vincis „Letztem Abendmahl“ und natürlich der Geschäfte wegen.
Außerhalb Mailands findet man alles toll, was irgendwie mit Lifestyle zu tun hat und mit der Stadt in Verbindung steht.
So feierte man in der Mode-PR-Welt frenetisch, dass in der legendären Luxusgasse Via Della Spiga eine „Swatch“-Filiale eröffnet wurde - das zeige, dass die Schweizer Plastikuhren nun im Olymp des Stils angekommen seien. Ich war bei der Shoperöffnung mit großem Brimborium und Champagnerumtrunk dabei und hörte die Mailänder murmeln, dass es mit der Luxusgasse nun bergab gehe, wenn sich so eine Filiale dort breit mache. Demnächst gebe es ja dann wohl dort auch Billig-Turnschuhe oder „Pimkie“, und das neben „Versace“, „Prada“, „Armani“, „Dolce & Gabbana“. Madonna mia! Was zum Mailänder Lifestyle gehören darf und somit einen Platz in der Via della Spiga verdient hat, möchten die Mailänder schon gerne selbst entscheiden. Mit der Piccata könnte es ähnlich sein.
In weiteren E-Mails verrät Giuseppe dann, dass er zwar gebürtiger Mailänder ist, seine Eltern aber aus Verona kommen. Und er eigentlich Seppi genannt wird. Die eine Verhüllung weg, eine andere dazu. So ist auch die ganze Stadt, als ich ankomme und vor unserem Treffen durch die Modemeilen spaziere. Die Türen der Boutiquen, ob „Prada“, „Armani“ oder „Tiffany“, werden mir von freundlich grüßenden Sicherheitsleuten aufgerissen, die nicht erkennen können, dass meine Handtasche von „H&M“ ist und der Mantel vom Flohmarkt. Die Verkäuferinnen sehen das natürlich mit einem Blick und bedienen nur auf Aufforderung. Geizig rücken sie die Waren Stück für Stück aus ihren Vitrinen heraus. Ohne Rolex am Handgelenk wäre ich wahrscheinlich stehengelassen worden. Trotzdem schaffe ich es ohne Mühe, in eineinhalb Stunden über tausend Euro für Kleinigkeiten auszugeben. Nur bei „Douglas“ werde ich freundlich und zuvorkommend bedient, obwohl ich dort das günstigste Stück des Tages kaufe, einen lächerlichen Lippenstift. Unfeines hinter feinen Fassaden findet sich in der Innenstadt aber auch noch viel unvermittelter, etwa in der berühmten Einkaufsarkade „Galleria Vittorio Emmanuele II.“, einem wuchtigen Prachtbau am Domplatz, mit angeberischer Kuppel und imposanter Fassade ist sie gleichsam die Einfallschneise in das Luxusviertel. Gleich am Eingang jedoch hat sich eine Filiale von „Autogrill“ eingenistet, immerhin italienisch, aber dem Urlauber eher bekannt als Betreiber von Autobahnraststätten, mithin alles andere als glamourös. Das Angebot umfasst unter anderem eine Theke von „Burger King“ und eine von „Spizzico“, Italiens Pizza-Schnellimbiss. Da stehe ich also an einem Essplatz am Fenster, die „H&M“-Tasche mit „Prada“-Produkten drin auf das schmuddelige Bord neben mich gestellt, esse ein „Menu PizzaPata“, das ist eine Pizzaschnitte mit Pommes und Cola dazu, und blicke hinaus auf den Domplatz. Vor dem Fenster hampeln Jugendliche herum. Neben mir steht ein dicker alter Mann, der dem Menü sogar noch eine Frucht-Torte hinzugefügt hat. Immer wieder stolzieren zwischen den Normalos auffällige Fashionistas mit den richtig großen Tüten aus der Via della Spiga vorbei. Das Unfeine, das Unpassende wird ignoriert. Wenn die Jugendlichen sich nach den Fashionistas umdrehen, registrieren sie dies nicht einmal, genauso wie die gepflegten Männer mit den glänzenden Schuhen, den feinen Schals und den teuren Brillen mich ignorieren, egal ob ich bei Autogrill im Schaufenster stehe oder einen Blick auf die Timer bei Gucci werfen möchte. Sein ist, wenn der Schein stimmt. Wenn du einfach nur Seppi aus Verona bist, hast du in Mailand wohl wenig zu melden.
Sogar der „Standa Supermercato“ nutzt diesen MailandEffekt: Im Erdgeschoss, von der Straße aus einzusehen, schön gepflegte Theken mit feinen Broten, Salaten und leckeren Snacks, die von jungen Männern in Schürzen angeboten werden. Wer aber wirklich einkaufen will, muss durch den ganzen Lebensmittel-Showroom, dann hinten eine Treppe runter in den Keller. Dann kommt der eigentliche Supermercato, eng, voll, muffig, mit riesigen Schlangen an den Kassen.
Giuseppe und ich treffen uns schließlich in Brera, im Inviertel des Zentrums, das Quartier Latin von Mailand, sagt er. Im „Café Brera“ gibt es weder Cotoletto Impanada noch Piccata. Auch seine Freunde, die er angeblich gefragt hat, haben noch nie etwas von der Piccata Milanese gehört. „Wie, ein Parmesanschnitzel mit Spaghetti und Tomatensauce soll das sein? Igitt!“ Also essen wir Kuchen, wir rauchen, trinken Vino und Café in der Sonne. In meinem neuen Kochbuch, gekauft bei „Mondadori“ in der Fußgängerzone, habe ich Ossobuco Milanese gesehen - ob er das wenigstens kenne? Sicher, sicher, das liebe er, das ist lecker, besonderes das Innere vom Knochen, das ich hasse. Nebenan wird, Gott sei Dank, Pizza Margherita serviert, Schinkenplatten, Mozzarella mit Tomaten. Bar-Essen eben. Um mir zu beweisen, dass es nicht einmal im echten, traditionellen Ristorante ein paar Häuser weiter solche Verirrungen zu essen gibt, fragt er den schmierigen Schlepper, der im Nadelstreifenanzug in der Gasse steht und die Gäste einweist. Ja, doch, doch, sagt der, das hätten sie schon, das sei ein leichtes Kalbsschnitzelchen mit Gewürzen, in Brühe zubereitet, etwas Leichtes im Gegensatz zum panierten Cotoletta, eher mediterran. Aber eigentlich nicht typisch für hier, man sei ja schließlich im Norden. Giuseppe sagt zu diesem Thema erstmal nichts mehr und meint dann, dass es hier in Brera ja doch sehr touristisch sei, schon schön, aber halt, naja, schon etwas für die Fremden.
Da ist er wieder, der Mailand-Effekt, das Schein und Sein und Zu-Sein-Versuchen. Fare bella Figura, wo man auch hinsieht. Da bietet das Lokal, das auf ausländische Gäste schielt, also doch die Piccata Milanese an, aber es ist nicht das, was man erwartet, sondern das, was das Lokal meint, das die Gäste erwarten, nämlich etwas Mediterranes, Feines, schließlich sind sie ja in Italien. Dass die deutschen Gäste, so sie denn zu Hause Kantinenesser sind, mindestens überrascht, wenn nicht gar enttäuscht sind? - Egal! Man hat schließlich einen Ruf zu verteidigen. Nicht einmal ein Schnitzelchen kommt in eine beliebige Verpackung. Das wäre so, als würde „Prada“ in der Via Della Spiga die gekauften Waren nicht mehr in Seidenpapier einschlagen, in eine weiße Kartontüte mit einer kleinen Schleife stecken und dem Kunden überreichen, sondern sie einfach wie bei „Mondadori“ in eine fiese, laut raschelnde Plastiktüte packen.