Später fahre ich mit Giuseppe durch die Stadt, da parkt er den Wagen in zweiter Reihe, springt in eine Bäckerei im 5oer-Jahre-Stil und dem Firmennamen „Panarello“ in einer Art Westernschrift über der Tür, kommt mit einer großen, weißen Papiertüte wieder zurück und sagt: „Da! Probier! Das sind Cantuncini, die besten der Welt, und überhaupt das beste, was es in Mailand zum Naschen gibt.“ Es sind kleine Blätterteighörnchen, außen zuckerknusprig, sodass ich beim Hineinbeißen erwarte, dass das Gebäck im Mund explodiert und dann mit seinen trockenen Krümeln allen Speichel im Mund aufsaugt. Aber es wäre kein Mailänder Gebäck, wenn die Hülle nicht eine Überraschung verbergen würde, in diesem Fall eine üppige Füllung aus Vanillepudding. Wir bröseln mit den Cantuncini im Auto herum, lassen die Seitenscheiben herunter und die sonnenwarme Luft streicht herein. An einer Hauswand hängt eine riesiges Werbeplakat, auf dem steht: Der Urlaub, der ihr Leben verändern wird. „O-ho!“, sagt Giuseppe, und ich sage: „Lass uns das buchen!“
Wenn ich richtiges Abendessen haben wolle, lecker und sehr italienisch und natürlich auch ein bisschen typisch mailändisch, solle ich am besten zu „I Matteoni“ gehen, sagt Giuseppe. „Brera, pfft, wer geht dort schon hin.“ „I Matteoni“ sei toll, weil es eines von drei verbleibenden Lokalen in Mailand sei, die ein Raucherzimmer hätten, und weil es ein Freund von ihm betreibe. Das Essen sei natürlich auch lecker. So. Er selbst hat keine Zeit mitzugehen, aber er zeichnet mir eine Karte, wie man dort hinfindet und organisiert eine Reservierung. Perfetto. Da sitze ich dann also, mitten in der Mailänder Samstagnacht ...
Die Matrone von Chefin, die Juniorchefin, der Kellner, alle wissen Bescheid: Das ist die Dame, die Giuseppe geschickt hat. Ich bin tatsächlich im Raucherzimmer untergebracht, natürlich die einzige allein speisende Person im Lokal. Es ist ein Ort, den nur Wissende finden können, die Fenster mit weißen Laken zugehängt, sodass es dem äußeren Augenschein nach auch eine Arztpraxis sein könnte, eine Motorradwerkstatt oder der Raum einer Kinderkrabbelgruppe. Hinter der Eingangstür sagt aber sofort die Vitrina, was gespielt wird. Sie ist voll mit eingelegten Antipasti und auf der Anrichte steht ein halb verzehrter Parmaschinken, aus dem der Knochen herausragt wie ein Schaltknüppel.
„Prosecchino!“, sagt der Kellner, schenkt ein und stellt mir einen Teller mit frittierten Bällchen hin, die auf braunem Packpapier liegen. Sie könnten aus Kartoffelteig sein, aus Fleisch oder Thunfisch, vor allem sind sie fettig, aber außen knusprig und innen fluffig. Die Pastasauce Fiorentina zur Vorspeise besteht aus derben, großen Fleischbrocken, und dann, hurra, erwarte ich die Cotoletta alla Milanese. Die soll genau so sein wie Wiener Schnitzel und nicht mediterran, weil man ja im Norden ist. Es kommt - ein frittiertes Monstrum von paniertem Fleisch am Knochen, auf Packpapier angerichtet. Ein profanes Ding, das nach Imbissbude riecht, auf der Karte aber einen stolzen Preis hat. Die Panade ist dicker als das Fleisch und tatsächlich: es ist eine richtige Wiener-SchnitzelPanade, kein Parmesan, keine Kräuter, keine Extras. Das ist ein Essen, das einen warm macht, und ich frage mich, wie die es hinbekommen, dass das Fleischteil selbst ganz dünn geschnitten ist, hinten aber ein dicker Knochen dranhängt. Es ist ehrlicher Batzen Kalorien, ohne auch nur einen winzigen Schnitz Zitrone zum Drüberträufeln. Bei diesem Ding gibt es keinen MailandEffekt, es ist so direkt wie eine Ohrfeige, so stilvoll wie ein Gummistiefel, so unmissverständlich wie ein Stoppschild. Kein Wunder, dass es kein Exportschlager wurde, denn dass sie dieses Monstrum gerne essen, behalten die Mailänder zu Recht für sich. Wie würde denn das zur Via della Spiga passen? Sie bewerben es nicht wirklich als typische Leckerei, sondern lassen die Fremden lieber glauben, dieses Ding sei identisch mit dem Ding im Eier-Käse-Teig und den Spaghetti. Wenn dann doch jemand das panierte Stück bestellt und sich wundert, kann man sich ja immer noch damit rausreden, dass es einen Unterschied zwischen Cotoletta und Piccata gebe. Ich trinke ziemlich viel Vino della Casa dazu. Statt der Rechnung legt mir der Kellner am Ende eine Rose auf den Tisch - Giuseppe habe ihm am Telefon gesagt, der Abend gehe auf ihn.
Dann stehe ich da mitten in der Mailänder Samstagnacht, beschwipst, mit einer Rose in der Hand - und allein. War das nun ein Date oder war es keins? War das doof oder süß von ihm? Will der was oder will der genau nichts? Und warum schickt er vorhin lauter SMS, ob alles in Ordnung sei, wenn er jetzt, wo ich mich bedanken will, nicht ans Telefon geht? Was ist denn da los? Schein? Sein? Die Mailänder sehen eine sehr schön angezogene Frau auf Highheels durch die Nacht gehen, mit einer langstieligen Rose in der Hand und ein paar Tränen auf der Wange. Niemand wundert sich.
JAPAN-ÖL
Sich in der Fremde verlieren, loslassen und das Vetraute finden
In Tokyo stehen zahllose Hotels, in Holzbuden am Vulkan Fuji sind Fuji-Filme oder Fuji-Einmalkameras zu kaufen, in Sapporo ein artiges Bier, in Kobe luxuriöses Rindfleisch und in Kawasaki alltägliche Motorräder. Auch sonst macht Japan seinen Namen alle Ehre, indem es Sushi bewirbt und in Karaoke-Bars lockt, mit vollgestopften U-Bahnen aufwartet und meinen Tokyoter Freund Tadashi immer im dunklen Anzug aus dem Haus gehen lässt, obwohl er für japanische Verhältnisse ein Individualist ist, weil er die Haare lang trägt und gerne auf die Krawatte verzichtet. Japan bedient auch ausgiebig das Vorurteil, befremdlich und irritierend zu sein, ein Industrieland mit scheinbar westlicher Benutzeroberfläche, die den Westler aber trotzdem immer wieder ins Leere laufen lässt. Es sind dies die Momente, in denen man sich besonders fremd fühlt - wenn der dünne Vorhang des Gewohnten plötzlich reißt und sich dahinter unbekannte, unverständliche Welten auftun. Wenn sich etwa der Zugschaffner tief verbeugt, bevor er das Abteil betritt. Wenn eine Verkäuferin mit spitzem Mund „Ooooooohhhhhh!“ und „So-so-so-so-so!“ ausruft, als man ihr im „Point it“-Sprachführer ein Foto mit Slipeinlagen zeigt, die man haben möchte, weil man auf den Packungen in den Regalen leider nichts lesen kann. Wenn der Anzug tragende Sitznachbar in der U-Bahn während der Fahrt einschläft, zur Seite kippt und den Kopf auf die Schulter der Fremden legt. Wenn in der traditionellen Kneipe gefordert wird, die Schuhe auszuziehen und in ein Schränkchen zu stellen und dann vor der Toilette Klo-Pantoffeln stehen, damit man nicht strumpfsockig in die Nasszelle gehen muss.
Die natürliche Reaktion ist Panik und Flucht - aber das bewährt sich nur in echten Notfällen. Solche von interkulturellen Verwerfungen eindeutig zu unterscheiden gelingt nicht jedem. Der weltgewandte Reisende hat gelernt, die Panik zu unterdrücken, genau wie er als Dreijähriger gelernt hat, wildfremden Menschen, die die Eltern als Freunde bezeichnen, artig die Hand zu geben, sie sogar Tante zu nennen, ihre Geschenke anzunehmen und sich von ihnen den Kopf tätscheln zu lassen. Die angeborene Angst vor dem Fremden zu überwinden ist einer der ersten Siege der Vernunft, aber er ist mit bitterer Währung erkauft: Demütigung. Bevor man sich nämlich von der blöden Tante und den eigenen Eltern auslachen lässt, gibt man eben die Hand.