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Bevor man sich also vor der versammelten Japaner-Truppe in der Kneipe zum Schweinchen vom Dienst macht, zieht man die von tausenden Vorgängern getragenen Toilettenslipper an, obwohl sie einem unhygienischer vorkommen als der blitzsaubere Fußboden. Aber weil die alte Angst immer noch im Bauch sitzt, muss das Befremdliche lächerlich gemacht und damit entwertet werden. Über den ich lache, den kann ich nicht fürchten. Wenn ich es doch tue, werden es zumindest die anderen nicht merken und nicht über mich lachen, sondern über das Befremdliche. Und so wurden viele Essays und Glossen, ernsthafte Reportagen und schnell hingeworfene Witzbücher über die Eigenarten der Japaner geschrieben, in denen es weniger darum geht, das Verhalten der Japaner und dessen kulturelle Hintergründe zu erklären, sondern alle Aspekte, die dem Westler befremdlich vorkommen, der Lächerlichkeit preiszugeben. Dass diese Eigenarten in Japan ganz gewöhnliches Alltagsverhalten sind, zeigt die Reaktion der Japaner, wenn man sich nicht korrekt nach ihrem Kodex verhält. Wer sich in der Schlange vor den U-Bahn-Türen vordrängelt, als wäre er in Hamburg oder Frankfurt, wird aus sehr schmalen Augen sehr, sehr böse angefunkelt. Wer mit Straßenschuhen in eine Herberge marschiert, bekommt eine Ansage im Befehlston der Samurai-Krieger. Und wer über den kippelnden U-BahnSchläfer kichert, wird von Tadashi scharf zurechtgewiesen. Als Fremder in der Öffentlichkeit über Japaner zu lachen ist der Gipfel der Respektlosigkeit.

Wenn jemand in Tokyo mit Recht lacht, dann die Japaner über die Ausländer, die keine Ahnung von gar nichts haben und nicht einmal die einfachsten Benimmregeln berücksichtigen, die man dort schon Kleinkindern beibringt. In Wirklichkeit bricht nämlich auch bei den Japanern Panik aus, wenn jemand durch die dünne Reispapierwand ihrer Zivilisation bricht wie ein Borstenschwein, das sich in die Stadt verirrt hat. Früher hat man solche Eindringlinge und Ruhestörer, nicht nur in Japan, tendenziell verjagt, bevor sie Schaden anrichten konnten. Heute, in anerzogener Weltgewandtheit, wird der Fremde toleriert, wenn auch zunächst misstrauisch beäugt, seine Verfehlungen werden qua Verstandesleistung hingenommen, ja entschuldigt. Wenn er damit jedoch die Ordnung bedroht, kommt Panik auf. Damit das niemand, erst recht nicht der Fremde selbst, bemerkt, wird wieder einmal gelacht. Etwa, wenn die Fremde im südjapanischen Ibusuki nackt mitten im Badehaus steht und erst dort begreift, dass sie das Mini-Handtuch besser nicht auf nimmer Wiedersehen in diesen kleinen Schacht bei den Duschen hätte werfen sollen. Wenn sie im Laden mit rudernden Armen zu erklären versucht, dass sie die Sandalen gerne in einer anderen Farbe hätte. Wenn sie in einem anderen Laden eine wilde Mischung aus Schokolinsen, Puddingpulver, Manga-Sammelbildchen und Kondomen kauft, weil sie scharfe Pfefferminzbonbons haben will und die Verpackungen alle danach aussehen, als könnten welche drin sein. Ausgelacht werden kann man in Japan bei ziemlich vielen Gelegenheiten. Besonders gefährdet ist die japanische Kultur immer dann, wenn Fremde essen - und besonders bedrohlich ist sie für die Fremden, wenn sie Japanisches essen müssen. Daher ist es im traditionellen Restaurant für alle Beteiligten besonders lustig. Während der Fremde versucht, einen großen Pott Suppe mit unbekannter Einlage mit Stäbchen leer zu bekommen, hat er große Chancen, dass die Gruppe am Nebentisch noch eine Runde Bier bestellt. Das Slapstick-Schauspiel, wenn der Fremde mit Stäbchen erstaunliche Dinge in schillernden Farben aus der trüben Brühe fischt und auf dem Weg zum Mund gelegentlich wieder fallen lässt, wollen sie sich auf keinen Fall entgehen lassen. Die Japaner lachen, um die Bedrohung für ihre Jahrhunderte alten Tischsitten abzuwenden. Der Fremde lacht, weil er sieht, dass die wundersame Suppeneinlage - im Gegensatz zu anderen japanischen Spezialitäten - wirklich tot ist und ihn nicht in den Gaumen beißen kann.

Essen ist etwas Elementares, dabei treten Unterschiede besonders deutlich hervor, ist das Fremde und der Fremde bedrohlicher als bei anderen Gelegenheiten. Probleme beim Kauf einer U-Bahn-Fahrkarte, beim Finden des Ausgangs im Mega-Bahnhof Shinjuku oder beim Lesen der eben aus der Lostrommel gezogenen Prophezeihungen im Tempel von Akasaka sind mit Humor zu bewältigen, weil das Ergebnis in jedem Fall das gleiche sein wird: Irgendwann kommt man durch irgendwelche himmlischen oder irdischen Mächte an sein Ziel. Diese Macht kann auch die Gestalt meines Freundes Tadashi haben, der mich im Bahnhof Shinjuku abholt und meint, mein weißes, pausbäckiges Gesicht sei in der Masse der Japaner, die sich zur Rush Hour durch die Gänge drängeln, recht leicht auszumachen gewesen. Es hat auch Vorteile, komplett fremd zu sein; man wird zumindest leicht gefunden. Tadashi, ein gemütlicher Zeitgenosse, brachte mir in seiner unaufwändigen Art auch bei, dass die Speisen in Münchner Japan-Restaurants nur für Anfänger sind und japanische Spezialitäten zum einen nur in Japan erhältlich sind und zum anderen auch nur von Japanern gegessen werden sollten. Umgekehrt, so die einhellige Meinung aller mir bekannten Japaner, sollte der Schokoladenpuffreis Nippon wirklich nur von Deutschen gegessen werden, da es ihn in Japan zu Recht nicht gebe. Wäre ja auch zu einfach gewesen.

Tadashi und ich saßen im Aussichtslokal eines Hochhauses mit Blick auf das noch höhere Rathaus von Tokyo. Tadashi bestellte Spezialitäten, eine nach der anderen. Es ist in Japan nicht etwa so, dass jeder seinen eigenen Teller mit seiner eigenen Vor-, Haupt- oder Nachspeise bekommt, sondern man bestellt eine Delikatesse nach der anderen, die sich alle am Tisch teilen, ein Feuerwerk aus kleinen kalten und warmen Snacks. In fast allen steckt mindestens eine Zutat, die zu Lebzeiten im Meer geschwommen ist. Nicht immer können Nicht-Japaner feststellen, ob es sich bei dem Snack auf dem Teller um tierische oder pflanzliche Bestandteile handelt. Rohe Fische: Einfach. Nur andere Sorten als in München. Mit Lachsfilet fangen sie in Tokyo gar nicht an. Großblättriger Algensalat, auch in Ordnung. Frittierte Tintenfisch-Hack-Bällchen: Kann ja jeder essen . Bis man auf seltsame, harte Sachen in den Bällchen beißt und sich vorstellt, das wären die gehäckselten Schnäbel der Tiere. Yakitori, gegrillte Hühnchenspieße: Ein Traum, wenn man nicht gerade den Westler-Feigling raushängen lässt, nach dem Spießchen mit den weißesten Fleischteilen greift und sich einen Mund voll davon genehmigt. Mitnichten handelt es sich dabei um zartes Brustfleisch, sondern um fleischfreie Knorpelteile vom Huhn. „Sehr gesund für die Knochen“, sagt Tadashi, aber von Menschen nicht mal annähernd zu kauen. Dann kommt ein kleines Ton-Öfchen auf den Tisch, über einem glühenden Kohlestück liegt ein Mini-Rost. Es werden getrocknete Fisch-Häute gereicht, in kleine Quadrate geschnitten, auf der einen Seite silbrig glänzend, auf der anderen weiß und fettig. Tadashi legt eine auf das Öfchen, sie fängt an, nach verbrannten Autoreifen zu riechen und die silbrige Seite wirft Blasen. „Probier mal“, sagt Tadashi. Danke, gerne, aber nur eine.

Nach einigen Tagen in Japan, vielen erstaunlichen Lebensmitteln, nach Irrfahrten, Gelächter, Fehlkäufen, beschleicht mich ein Gefühl essenziellen Fremdseins. Der Jetlag ist überwunden, der Kopf wieder klar, dem Rausch des Neuen folgt der Kater des Verlassenseins. Wenn das Fremde die Übermacht über das Vertraute bekommt, stellt sich außer Staunen auch elementare Unsicherheit ein, als wäre man im Nebel auf einem zugefrorenen See ausgesetzt worden, in den man jeden Moment einbrechen könnte. Man kann sich ins Hotel verziehen, über Japan schimpfen und hinterher ein Witzbuch kaufen oder beschließen, sich dem Fremden auszuliefern und alles andere einfach als gegeben annehmen. Ein Etappensieg. Kalte Reisbällchen mit Algenkrümeln und Krabben-Mus gefüllt? Es gibt keinen besseren Snack. Bauarbeiter mit knöpfbaren Stoffstiefeletten, die ein eigenes Fach für die große Zehe haben? Coole Socken. Sich verbeugen, wenn man die Herberge verlässt? Aber selbstverständlich. Siehe da, das ewige Gelächter hört auf.

Dann passiert etwas, mit dem ich nicht mehr gerechnet hätte: Ich kaufe in einem Kiosk in Kamakura, tief im Süden, eine kleine Dose mit weißen Kügelchen, stecke eines davon in den Mund, beiße darauf, und als das Gelee-Kügelchen platzt und sich sein Inhalt auf die Zunge ergießt, explodiert in meinem Mund ein schon seit der Teeniezeit vergessener Geschmack. Scharfe Minze, Menthol und irgendwelche Kräuter, eine fettige Textur auf der Zunge, ein Brennen im Rachen, das ist - JapanÖl! Ich hatte vergessen, dass es existiert. Man konnte es in den 80er Jahren im Geschenk- und Esoterikladen in einem kleinen Fläschchen kaufen, es steckte in den Außentaschen unserer Schulrucksäcke und wir träufelten es bei Erkältung oder für guten Atem direkt in den Mund. Auch als ein Art Mutprobe; die ganz scharfen Minzbonbons gab es in der Zeit noch nicht. Japan-Öl! In der fernsten Fremde habe ich völlig unerwartet etwas Vertrautes gefunden. Wenn ich es gesucht hätte, wäre ich verzweifelt, und hätte hier eine Geschichte darüber schreiben können, dass es in Japan kein Japan-Öl gibt. Und wieder hätte man ein Neues Fake ins Regal stellen können, direkt neben den Nippon-Puffreis. So aber kann ich vermelden: Niemand ist nirgendwo jemals verloren. Weil es nur einer Winzigkeit bedarf und man ist auch am fernsten Ort der Welt zu Hause.