Wie schon Goethe wollten auch die Herrn Bürger mal etwas naschen, so auch der Engländer Doktor Frobrig, der zum Wassertrinken kam, im Haus des Apothekers Johannes Becher wohnte und an den langen Abenden mit Zutaten aus dem Fundus des Hausherren den Englischen Bitter zusammenstellte, einen süßen und würzigen Verdauungsschnaps, die Alternative zum salzigen Quellwässerchen. Der Apotheker Becher und seine Nachfahren hatten somit im Jahr 1807 die „13. Quelle“ erschlossen, perfektionierten ihren Likör, setzten nahezu wöchentlich mehr davon an und wurden mit ihrem „Becherovka“ weltberühmt. Karlsbad 3.0.: Metropole der Markenprodukte. So zumindest verbreitet es das heutige „Jan Becher Muzeum“, allerdings eher eine Verkaufsveranstaltung, bei der es egal ist, in welcher Sprache der Besucher mitmacht. Die alten Fläschchen und Fotos, die Medaillen von den Gewerbeausstellungen, die bemalten Fässer im ehemaligen Lagerraum erklären sich von selbst, die Probeschnäpse eigentlich auch. Danach gibt es ordentlich Rabatt auf die Literflasche des Klassikers „Becherovka“.
Eben dieser ist es, der Karlsbad die Einführung neuer internationaler Markenprodukte heute trotz EU und zentraler Lage schwer macht. Wie Bleigewichte hängen Tradition und Nostalgie den Unternehmern und der Stadt an den Füßen. Die übermächtige Aura des „Becherovka“ sowie seiner Epoche ist kaum zu überstrahlen, und da wären ja noch andere Meilensteine der Karlsbader Markenwelt: Das Mineralwasser „Mattoni“ zum Beispiel, mit einem spät-imperialen, stilisierten Adler als Wappentier. Nicht so salzig wie die Thermalquellen, sprudelnd oder still, damit erfreut es seit 1873 die tschechischen SodaFreunde. Neuerdings auch mit Zitronen- oder Orangengeschmack, gehört es heute zu den hochpreisigeren Erfrischungsund Lifestylewässern, ist in ganz Tschechien beliebt und wird von Besuchern gerne für einen italienischen Import gehalten. Dass „Mattoni“ aus Karlsbad kommt, steht nur ganz klein auf dem Etikett. Als ob man sich dafür schämte und darauf anspielen möchte, so international wie die neue Konkurrenz „Evian“, „San Pellegrino“ oder „Vittel“ zu sein.
Die Karlsbader Oblaten dagegen, als ältestes Markenprodukt der Stadt, sind zumindest den meisten Deutschen ein Begriff. Seit dem 17. Jahrhundert werden die knusprigen Teigplatten in Karlsbad gebacken. Im Teig wird Mineralwasser aus den Quellen verwendet, in der Füllung fand sich früher sogar manchmal Mineralsalz. Heute kommen Zucker- statt Salzkristalle zwischen die Platten, und allerlei Leckereien, aber der Witz an der Sache ist immer noch das Mineralwasser, finden zumindest die Karlsbader Oblaten-Bäcker. Die deutschen und anderen Nicht-Karlsbader Hersteller von Karlsbader Oblaten sehen dies anders und setzen auf Butter-Aromen, feine Nüsse und andere Extras, führen das Traditionsprodukt damit ad absurdum. Was einst eine tragbare Trinkkur war, wird so eine trockene, altmodische bis altbackene Süßigkeit. Doch sogar, wenn sie aus Bayern kommt, ist auf der Karlsbader Oblate ein sprudelnder Brunnen abgebildet. Aber dieses Emblem ist auch auf den Deckeln der Karlsbader Abwasserkanäle zu sehen.
In der Sprudelkolonnade schmecken die warmen Oblaten jedenfalls besonders lecker. Die Oblatenfrau bäckt sie gleich in ihrem Stand an einer rotierenden Maschine. Für sieben Kronen das Stück packt sie die warmen Oblaten in eine Papiertüte, wo sie nur so lange bleiben sollten, bis man die Schnabeltasse an der Sprudelquelle gefüllt und einen Platz auf einer der Bänke eingenommen hat. Warme Oblate und Thermalwasser, das sind gute Freunde. Während man knabbert und auf die Jacke bröselt, ist der spätsozialistische Natursteintempel zu bewundern, den man der Sprudelquelle in den 80er Jahren errichtete. Der Sprudel selbst schießt in einer hohen Fontäne in eine Glaspyramide und fällt dann in ein rundes Becken, wobei ein unrhythmisches, metallisches Klappern entsteht.
Bewusst und mutig setzt sich dieser Arbeiter-Erholungskasten von der Zuckerbäckerarchitektur des restlichen Kurzentrums ab. Man hat all die Schnörkel und Stuck-Gesichter ignoriert und etwas Neues geschaffen, das die Version des sozialistischen Karlsbad (Karlovy Vary S.O.C.) darstellen sollte. Kein Wunder, dass Russen den Sprudel lieber meiden und bevorzugt zwischen den dorischen Säulen der Mühlbrunnenkolonnade flanieren. Beim sozialistischen Sprudel findet man die Deutschen und erneut die Japaner, die besonders die Fontäne bewundern, sich von den Oblaten fern halten, aber am Souvenirstand in der Auswahl an bunten Badesalzfläschchen stöbern oder in den in rostfarbenem Salz erstarrten Rosen, die man im Untergeschoss des Sprudelhauses in den Thermalwasserdampf hängt, der alles mit der roten Kruste überzieht. Karlsbader Rosen nennen die Souvenirhändler das, aber weit über die Grenzen hinaus hat sich die Existenz dieses Produktes noch nicht herumgesprochen.
In Karlsbad, Version 3.1, konsumorientierter Nobel-Treff des 19. Jahrhunderts, wäre es kein Problem gewesen, dieses Produkt zu lancieren und weltweit zu vermarkten, so wie es in dieser Zeit auch die Karlsbader Schuhe auf alle feinen Parketts der Welt schafften. Womöglich hat man sie schon getragen, als in Karlsbad die Karlsbader Beschlüsse gefasst wurden, jene traurige Sammlung konterrevolutionärer Gesetze von 1918, die unter Metternich und Co. die Meinungsfreiheit aufhoben und weitere rückständige Ideen zementierten. Von den Beschlüssen hat man schon einmal etwas in einer TV-Doku gesehen oder in der Schule gehört, bei den Schuhen wird es schon schwieriger. Ein Budapester ist ein Herrenschuh aus feinem Leder, in der Form gerade, voluminös und schnörkellos, unauffällig geschnürt und hochwertig zwiegenäht. Damit er bei all der Schwere noch elegant ist, verpasst man ihm eine Verzierung aus gelochtem Leder. Teuer, solide, edel, fein, exklusiv, aber ein wenig aus der aktuellen Form: ein Schuh wie Karlsbad 3.1.
Mit eben solchen Schuhen spazierte man im 19. Jahrhundert bevorzugt in das Grandhotel „Pupp“, zu dieser Zeit eines der führenden Hotels Europas, in dem jeder Salonlöwe, der etwas auf sich hielt, gesehen werden wollte, zocken, trinken und natürlich kuren konnte. Nicht nur die Deutschen und Sudetendeutschen natürlich, auch die Bürger der Habsburgerzone, die Österreicher, die Ungarn und die Böhmen schätzten Karlsbad für guten Stil und Kultiviertheit. Sie alle wollten Karlsbader Schuhe haben, besonders die Ungarn, die sie bald auch in Budapest herstellten, damit auch diejenigen, die nicht nach Karlsbad reisten, auf feinen Sohlen die Donau entlang tigern konnten. Donauaufwärts wollte man das natürlich auch, und kaufte daher die Budapester Schuhe. Budapester. In Budapest genannt: Karlsbader. In Karlsbad hingegen: heute ausgestorben.
Als kurbadender Russe trägt man Freizeitschuh und Sandale, Pantoffel gar. Maximal einfache braune Lederslipper mit Gummizug an der Lasche und Kreppsohlen. Altherrentreter. Als moderner Russe mag man die natürlich nicht. Wem die Sport- und Freizeitschuhe zu proletarisch sind, nimmt geschnürte Lederschuhe mit langer, leicht nach oben gebogener Spitze, das Leder bisweilen etwas zu glänzend. Für die Dame dürfen es Stiefel sein, gerne hoch, gerne mit Plateausohle, am liebsten in Lackleder oder Schlange. Und die Deutschen? Schlurfen auf Ecco, Geox und Ara einher, im Sommer mit Socken in Herrensandalen, und treten damit auf ihre Art die Mutterstadt des edlen, bürgerlichen Männerschuhs mit Füßen.
Viele Bekleidungsboutiquen gibt es heute im Kurzentrum von Karlsbad. Sie brüsten sich mit den Namen internationaler Designer, stellen Pelz und Gestricktes ins Schaufenster, aber wenn man handgearbeitete Karlsbader haben will, muss man schon nach Budapest fahren. Dort sollte man aber keinesfalls nach Budapestern fragen, weil sonst die Ungarn antworten, dass sie die leider nicht haben. Schuld am Verschwinden der Karlsbader Schuhe sind nicht die Ungarn und nein, auch nicht die Russen, Schuld ist die Version Karlovy Vary S.O.C., in der alles Großbürgerliche verpönt war, erst recht lederne Statussymbole. Karlsbad wurde Volksbad, das prächtige alte Kaiserzeit-Badehaus hinter dem Hotel „Pupp“ verfiel. Im „Pupp“ selbst zogen die Parteibonzen der sozialistischen Bruderländer ein. Der Rest der Stadt begann, sich proletarisch in Einheitsgrau zu hüllen und die Fassaden mit Feinstaub zu schminken.