Budapester trug man auch gerne in der kurzen Zeit, als die Gegend Sudetenland hieß, aber daran erinnert man sich in Böhmen nur sehr, sehr ungern. Der Schuh wäre nicht nur Nostalgie, er wäre auch ein Tritt in den Hintern. So wie die Tschechen Karlsbader Oblaten, die nicht aus Karlsbad kommen, als Ohrfeige empfinden, und als neues EU-Land schon 2005 beantragten, den Begriff als regionale Bezeichnung schützen zu lassen. Dies wiederum rief die sudetendeutschen Landsmannschaften auf den Plan, die die Oblaten für sich reklamierten: Oblaten zu backen sei eine Profession der Sudetendeutschen gewesen, die sie bei der Vertreibung mit in ihre neuen Heimatländer genommen hätten. Ihnen jetzt zu verbieten, wo auf der Welt, in wievielter Generation und mit welchen Wasser auch immer Karlsbader Oblaten herzustellen, käme einer zweiten Enteignung gleich. So sagen beide Seiten: Die Karlsbader Oblate ist unser - und eure nur eine Fälschung!
Eine ebensolche ist übrigens die Karlsbader Schnitte: Sie war in der DDR das, was die Wessis als Toast Hawaii kannten. Da Hawaii zum einen sehr weit weg von der DDR war und zum anderen im Gebiet des kapitalistischen Klassenfeindes lag, suchte die DDR ein näher gelegenes und trotzdem exotisches Sehnsuchtsziel als Namensgeber für den kleinen Imbiss aus. Karlsbad, das klang nach Ferne und zugleich nach Gutbürgerlichkeit, nach Ausland und doch nach europäischer Benutzeroberfläche, nach Bruderland sowieso. Karlovy Vary S.O.C., das konnte im sozialistischen Zeitalter gut nach Schinken-Käse-Ananas-Toast schmecken, eher noch als nach bürgerlichem Hirschgulasch mit Serviettenknödeln. Diese Stadt roch nach Zweitaktergemisch und Braunkohleheizung, ihr Glamour versank in der eigenen Nostalgie und dem diskreten Charme der Arbeitererholung. Ein Problem, das Karlsbad nun immer noch hat: Der elegante, weltläufige Jet-Setter, der Budapester/ Karlsbader Schuhe sowohl kennt als auch trägt, verbringt seine jährliche Wellness-Woche bestimmt nicht im post-sozialistischen Böhmen.
Karlsbad, Version 2011. Außer dem Schuh ist aus jeder Version etwas übrig geblieben. Vor dem Grandhotel „Pupp“ fahren wieder die teuersten Kutschen vor und treffen sich wie eh und je die Geheimdienstler und Geschäftemacher, sogar in Gestalt des leibhaftigen James Bond, der in „Casino Royale“ dort mit Le Chiffre um Millionen Euro zockt. Im Café „Elefant“ stehen die dicksten Torten Böhmens in der Vitrine, vor den Häusern in der Petrin-Gasse parken noch Wartburgs, im Hotel „Promenada“ kommen Stopfleber und gefüllte Wachteln auf den Tisch, daneben blitzt die Werbung eines vietnamesischen Kellerlokals. Im nagelneuen Schlossbad „Zamecke Lazne“ hat man einen Quellgeist in den Fels gemeißelt, den Pool mit Mosaikfliesen ausgelegt und umschmeichelt die wellnessenden, gut zahlenden Gäste außer mit Perlbädern und Sprudel-Pool auch mit Tee und zarter Musik. Einige internationale Stars waren schon da, in Pausen des Filmfestivals, einem neuen Fähnchen für Gästegruppen, mit dem Karlsbad emsig wedelt. Im „Hotel Thermal“, einem übermächtig großen Arbeiter-Erholungsklotz aus Beton, lebt die in Gestalt eines großen Außenpools die VolksbadTradition aus Karlovy Vary S.O.C. weiter, denn der Eintritt ist unschlagbar günstig. Am Rand des Pools hängend kann jeder vom warmen Wasser aus die Aussicht auf die Stadt genießen, den Schwaden Thermalwasserdampf hinterhersehen, wie sie in den Abendhimmel davonziehen.
Karlsbad. Perle des Ostens. Eine Stadt mit vielen Gesichtern, möchte man fast sagen, wenn das nicht so ein Quatsch wäre. Jede Stadt hat genau das Gesicht, das man selbst von ihr sehen möchte. Keine Gesichter, aber Aushängeschilder kann sich eine Stadt verpassen, auch mehrere, wenn sie es verträgt, und genau hier ist das eigentliche Problem Karlsbads. Die alten Aushängeschilder taugen nicht mehr. Die uncoole Schnabeltasse darf man, wieder zu Hause, niemandem zeigen, die Oblaten aus der Schachtel schmecken nicht, der Becherovka, nun ja, auch den muss man mögen, zumal ihm noch der Duft des Ostblocks anhaftet, und buntes Badesalz steht für kleines Geld in jedem Drogeriemarkt der Welt. Der Schuh, der wäre es, aber der ist weg. Karlsbad braucht dringend ein neues Aushängeschild, eines, das zur Stadt passt und zu den Gästen, mit dem man weltweit Furore machen könnte oder zumindest dort, wo die besonders geschätzten Gäste herkommen, in Russland, der Ukraine, in Kasachstan oder Japan. Eine besonderes Pelzmützendesign könnte so ein neues Markenprodukt werden, oder, noch besser, eine neue Mund- und Nasenform. Denn nicht mehr Baden und Trinken allein, sondern Schneiden und Spritzen sind die neuen Kurmittel im alten Kurort, Chirurgie die neue Wellness. Die Karlsbader Nase oder die Karlsbader Oberlippe - das wäre wirklich einmal etwas Neues aus dem Osten.
JERUSALEMKERZEN
Auf der Suche nach dem Licht in einer eiligen Stadt
Graues Licht fällt in staubbetanzten Bündeln in die Jerusalemer Grabeskirche. Es sollte golden sein, wenigstens an diesem besonderen Ort, sauber und klar, bernsteinfarben, oder wenigstens gleißend hell wie draußen, dadurch im Gebäude erhaben strahlend, aber nein, es ist grau. Grau wie die Wände, die Böden, die Ecken, die Treppen und Kapellen. Grau wie ein Grab, aber grabesruhig ist es nicht, im Gegenteil, denn da an diesem Ort die christlichen Pilgerreisen aus aller Welt ihren Höhepunkt erreichen, ist auch die Aufregung am größten und mit ihr der Rummel. Niemand möchte etwas verpassen, jeder jedes Ritual für sich so intensiv auskosten, wie es nur geht, und auch jedes Foto genau so und genau dort machen, wie es ihm am besten gefällt. Also beginnt die Schubserei schon am Eingang, am Salbungsstein, dem sich die alten Mütterchen aus Osteuropa, mit frisch gestärkten weißen Kopftüchern fein gemacht, in ganz besonders buckliger Haltung nähern und ihn mit dramatischem Singsang küssen und streicheln. Wer einfach nur so mal anfassen möchte oder auch nur gucken, bekommt Ellbogen, Schultern und sogar Hinterteile zu spüren, ganz aus Versehen, natürlich. Drinnen im grauen Grabesdom braucht jeder den besten Platz für sich und seine Gruppe, den Reiseleiter und den Pfarrer. Der enge Zeitplan erlaubt keine Rücksicht auf die anderen Gruppen, die sich wie Schafherden auf der Landwirtschaftsausstellung zusammendrängen. Schließlich wartet draußen die heiligste aller heiligen Städte noch mit vielen anderen heiligen Attraktionen. Also schnell zum gespaltenen Golgathafelsen im Tiefgeschoss, gegen seine Schutzscheibe geblitzt, dass alle halb blind werden von der Reflektion, wieder rauf in die Seitenkapelle, kleine Ansprache vom Pfarrer, fotografieren, andere Gruppen aus dem Weg schubsen.
Der magere koptische Mönch an der Rückseite des Heiligen Grabes verschanzt sich in einem verschlagartigen Kapellchen, zischt die Besucher böse an und fuchtelt mit den Fingern. Keine Fotos! Aber er steht nahezu auf verlorenem Posten. In seiner Kapelle ist Kerzenlicht, warm und heimelig. So unsensibel oder gehetzt kann kein Besucher sein, dass er diesen Schein nicht wahrnimmt und in die Kapelle blickt, aber so sensibel, den kleinen Mönch nicht zu fotografieren, ist eben nicht jeder. Wer sich von seinem dauernden Gezische und Gefuchtel nicht abschrecken lässt, sieht freundliche Ikonen in seiner Kapelle und ein Körbchen, in dem der Mönch gebündelte Kerzen verkauft. Hält man ihm eine Münze hin, hört er sofort auf zu zischen, schaut den Käufer aus rehbraunen, etwas erstaunten Augen intensiv an, reicht das Kerzenbündel heraus und nickt. Währenddessen entstehen geschätzte fünfzig Fotos. Die geweihten Kerzen sind natürlich keine Souvenirs, sondern zur sofortigen Verwendung in der Kirche gedacht, indem sie alle auf einmal angezündet und in den bereits mit flüssigem Wachs getränkten Trog an der Außenseite des Heiligen Grabes gesteckt werden. Dreiunddreißig millimeterdünne Kerzen für die dreiunddreißig Lebensjahre Christi gehen zugleich in Flämmchen auf. Heller wird es unter den drückenden grauen Kuppeln jedoch nicht. Auch nicht, wenn kichernde, dicke Amerikaner versuchen, irgendwelche anderen Kerzen, die sie mitgebracht haben, so in die Wanne zu stecken, dass sie nicht gleich ausgehen oder im flüssigen Wachs untergehen.