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Weil alle schon mal da sind, stellen sie sich auch an, um ins Grab selbst zu kommen. Am Eingang sind die Neuankömmlinge versucht, direkt in die Grabkammer zu rennen, aber da blockiert ein dicker griechisch-orthodoxer Mönch als Türsteher den Weg, wedelt mit seinen Wurstfingern und bedeutet: Hier nur Fotos. Reingehen heißt hinten anstellen. Weil aber nun draußen in Rest-Jerusalem noch so viel Heiligkeit zu sehen und zu erleben ist, hat im Grunde kein Mensch Lust und Zeit auf eine Stunde Schlange stehen. Immer drei Leutchen dürfen für geschätzte zwanzig Sekunden in der kleinen Kapelle vor dem eigentlichen Grab verharren, über hundert Leute stehen an, man könnte sich also auf die Zeit einstellen, aber nein, da sind die zwanzig zarten Mädchen aus Polen, die sich vordrängen, als wäre es 1989 und vorne würden Bananen verkauft. Um jeden Zentimeter in der Schlange kämpfen sie verbissen. Wer nicht weichen will, bekommt Kugelschreiber in die Rippen gepiekst und Pfennigabsätze in die Zehen gebohrt. Die großen amerikanischen Männer tun sich leichter, setzen Körpergeruch und -masse ein, um von viel weiter hinten kommend sogar noch die drängelnden Polinnen zu überholen. Und weil das in der Schlange so ist, dass man ständig von irgendjemandem überholt wird, drängeln auch alle anderen, fahren Ellbogen und Rucksäcke aus, stellen sich breitbeinig hin, furzen absichtlich, die Unterkiefer mahlen, die Adern an den Schläfen schwellen. Es liegt wohl wirklich an der Natur des Ortes, dass es nicht minütlich zu Schlägereien kommt, denn beim Einlass zum Schlussverkauf oder zu einem Rockkonzert würde bei gleicher Besetzung Blut fließen. Die Security hätte jedenfalls ordentlich zu tun. Da aber nun jeder über eine Stunde lang damit beschäftigt ist, die Aggressionen, Fremdenfeindlichkeit und Klaustrophobie in Schach zu halten, kann sich niemand auf den besonderen Moment vorbereiten, in dem einen die Schlange vorne am Gitter ausspuckt in den Vorraum der Grabeskapelle, sondern ist in den 20 Sekunden, in denen man dort sein kann, mit Einatmen beschäftigt, der Suche nach schon verloren geglaubten Gliedmaßen, Haarklammern und Gepäckstücken. Dann kniet man auch schon drinnen im Grab, höchstwahrscheinlich neben den Dränglern, denen man eben noch am liebsten den Schädel spalten wollte, und faltet die Hände, weil einem sonst nichts Besseres einfällt. Hier drinnen hat das Licht die Farbe von Tannenhonig, und sicher ist die Atmosphäre auch ganz besonders intensiv, aber spürbar wäre sie nur mit deutlich niedrigerem Adrenalinspiegel. Dann ist der Zauber auch schon wieder vorbei, die Polin wirft einem am Ausgang einen letzten giftigen Blick zu. Wenn man dann doch noch nicht aufgeben will, der Grabeskirche wirklich eine Chance geben möchte und eine kleine Bibel aus der Tasche zu holt, um darin zu lesen, blitzt es schon wieder aus fünfzig Pocket-Kameras, die die einzige Bibelleserin in der Grabeskirche knipsen und das Foto mit zurück nach Nashville und Atlanta in den Bible-Belt tragen.

„Er ist nicht hier - er ist auferstanden“, das sei ein prima Witz über die Grabeskirche, steht im „Lonely Planet“, der für die Orientierung in Jerusalem weit besser geeigneten Bibel. Gott wohnt hier nicht mehr, könnte man auch sagen. Den Devotionalienhändlern ist es egal. Die meisten von ihnen sprechen Arabisch und schauen drein, als würden sie genauso gerne Seifen, Kirschen oder Schusternägel verkaufen wie grob geschnitzte und mit Papierbildern beklebte Taschen-Ikonen, Blech-Kreuze, Plastik-Rosenkränze und Messing-Räuchergefäße. Direkt an die Grabeskirche angrenzend sind ihre Läden am glitzerndsten und vollgestopftesten, die Waren natürlich nicht nur ganz billig, aber kaum echtes Kunsthandwerk ist darunter. Freilich machen die großen Räuchergefäße etwas her, aber es kein Gold, was da glänzt, und der Metallkorb mit den Coladosen ist größer als der Ständer mit den gedruckten Reiseführern. Zwischen massengefertigten Ikonen, die es in Russland zu einem Fünftel des Jerusalem-Preises gibt, stehen siebenarmige Leuchter aus der Fabrik und grob zusammengezimmerte Kreuze, neben den „echten“ Olivenholz-Rosenkränzen hängen Torah-Lesefinger und die entzückenden Armbändchen mit den Heiligenbildern, von denen aber fast jeder weiß, dass sie Escapulario heißen und aus Südamerika kommen. Nun ja, offensichtlich nicht jeder, sonst würde sie auch niemand kaufen und sie würden nicht in der Auslage hängen. Beliebt müssen auch T-Shirts mit ComicKamelen sein, sonst stünden auch sie nicht ganz vorne bei den Kreuzen, Krippen und Erinnerungstellern mit Stadtansicht. Ja, man kann um die kleinen Plastik-Jerusalemkreuze feilschen wie um jede Ware jedes arabischen Standbetreibers. „Wie viel sind die Ihnen denn wert“, will der junge Kerl mit der öligen Lockenfrisur wissen, hört beim Feilschen gar nicht richtig zu, sondern geht beim Verpacken des Souvenir-Sammelsuriums (allerlei Kreuzchen und Alu-Medallions für die Lieben daheim) schon zu Punkt zwei eines typisch orientalischen Verkaufsgesprächs über. Jenes Typs, der sich in allen Souqs des Orients entspinnt, wenn die Frau allein und westlich und der Verkäufer offensichtlich gelangweilt ist. „Wo kommen Sie her? Machen Sie hier Urlaub? Lassen Sie mich raten, Sie sind Spanierin! Das sieht man an Ihren schönen Augen. Was machen Sie heute Abend? Ich bin Mustafa, hier ist meine Telefonnummer, rufen Sie mich an, ich zeige Ihnen die Stadt.“ Was die Kundin antwortet, ist völlig egal, am Ende gibt es das Kärtchen gratis zum Souvenirtütchen dazu.

Heilige Stadt hin oder her, Geschäft ist Geschäft, und schon ein paar Schritte von der Grabeskirche weg Richtung Via Dolorosa und islamisches Viertel verliert sich die vorgespielte Heiligkeit tatsächlich im Gewirr eines orientalischen Marktes. Nur die Nachfrage bestimmt das Angebot. Bestickte Käppchen hängen in Dolden an den gemauerten Bögen, die sich über die Gasse wölben, großgemusterte Röcke und graue Herren-Unterwäsche, Palästinensertücher, Postkarten und Kühlschrankmagneten wollen zu billigen Preisen mit nach Iowa, Krakau, Liverpool oder Seoul. Hat man die FußgängerAutobahn zwischen Grabeskirche und Klagemauer hinter sich gelassen, wird es ruhig in den Gassen, die Händler sitzen auf Hockern dösend vor ihren Läden. Zwischen Shirts und Jalabias sind jetzt auch wieder Devotionalien im Angebot. Eine schöne Kerze vielleicht? Das wäre was. „Hier bitte, dreiunddreißig Kerzen in einem Bündel für die dreiunddreißig Leben Jesu“, sagt einer nach dem anderen. „Wo kommen Sie her?“ Die Jungs kennen die bayerischen Wallfahrtsorte nicht, an denen es schwarze Gewitterkerzen gibt, geschnitzte Kerzen, Kerzen mit aufgeklebten Madonnen, Kerzen mit barocken Schnörkeln in weiß, rot oder dunkelbraun. Oder die polnischen Devotionalienläden, die Riesenkerzen mit güldenen Madonnenreliefs anbieten, deren Kronen mit Flitter verziert sind. Gibt es nirgends in Jerusalem schöne Kerzen? Jerusalemkerzen? Diese leuchtenden Millefiore-Kugeln, die in den 90er Jahren die Weihnachtsmärkte als wächserne Mini-Lampions zu erhellen begannen? Ach, diese Dinger mit quietschbunten Krippenmotiven oder auch mal mit Pinguinen im Schnee ... Ob sie schön sind ist Geschmackssache, aber Jerusalemkerzen aus Jerusalem wären für die deutschen Touristen - und auch für die aus Iowa und Seoul - genauso schöne Mitbringsel wie für die Orthodoxen die 33er-Bündel. Möchte man meinen. Überhaupt all diese schönen, kitschigen Weihnachtsmarktkerzen, von denen ganze Industrien leben -wo sind sie? Hässliche Metallleuchter mit Altstadtpanorama sind im Angebot oder Kerzenhalter, auf deren Form genau so gut „Amalfi“ oder „Alicante“ aufgedruckt sein könnte. Nein, keinen Kerzenhalter! Bitte! Danke! Hat denn niemand eine schöne Kerze? „Hier, die hätten wir noch!“ Ein junger Bursche holt eine kleine weiße Stumpenkerze aus einer Duftlampe. „Und dann haben wir noch die!“ Er bietet allen Ernstes ein Teelicht an. „Andere Kerzen werden Sie hier nicht finden, Madame. Machen Sie hier Urlaub?“