Nicht einmal direkt an der Klagemauer ist Ruhe, aber hier erfüllen die Händler wenigstens die Erwartungen: Am roten Kabbala-Glücksbändchen gibt es gegen eine Spende eine schützende Hand oder eine blaue Perle. Das passt. Und oben am Felsendom wird nicht Ware, sondern Mohammed angepriesen, von einem jungen Mann im schwarzen Anzug, der anbietet, etwas über den Propheten zu erzählen. „Haben Sie kurz Zeit? Ich bin kein Verkäufer!“ Aber Mohammed ist nicht auf dem Plateau des Tempelberges. Er ist von dort in den Himmel geritten. He’s not here. He’s risen.
Insofern ist Jerusalem ein gottverlassener Platz, schön zwar und aufregend, intensiv und durch seine schiere Monumentalität sicher für jeden Besucher lebensverändernd, aber Besinnung im Trubel - nicht im Angebot. Wer in den Gassen und Sehenswürdigkeiten Jerusalems seine Ruhe haben möchte, muss sich unsichtbar machen. Das Geschäft mit dem Glauben bestimmt den Alltag der Altstadt. Shoppen und rennen bis zur Besinnungslosigkeit, viel erleben und staunen, das geht, tagelang. Trotzdem, auch wer jede Gasse einmal abgegangen ist, kann nicht behaupten, Jerusalem zu kennen. Jede Gasse hat zu jeder Tageszeit einen anderen Charakter. Aber dennoch ist die Stadt so wie ein Festivalgelände am Morgen nach einem Festivaclass="underline" Die Bühne ist noch da, die Zelte, die Stände, der Müll und allerlei vergessenes Gepäck, aber das große Ereignis ist vorbei, das Treffen der Stars mit den Fans nur noch Erinnerung. Die Stars sind wieder im Hotel und die Fans, die dabei waren, sind verkatert weiter gezogen um sich gegenseitig und allen anderen zu erzählen, welch einzigartige Momente sie erlebt haben. Wer zu spät kommt, sieht nur noch die leere Bühne und das Merchandising. Und versucht trotzdem, das Beste für sich herauszuholen. Etwa, indem man einen Wunsch in die Ritzen der Klagemauer steckt, ihre Steine streichelt und hofft, dass die Zigeunerin, der man eben nichts abgekauft hat, einen nicht verflucht. Besinnung muss man schon selbst mitbringen nach Jerusalem - finden wird man sie dort nicht. Genauso wenig wie Jerusalemkerzen. Die könnte man im Übrigen auch prima im Wachstrog am heiligen Grab schwimmen lassen.
LEIPZIGER ALLERLEI
Der Geschichte Werk und Mephistos Beitrag
Die DDR war für mich, so lange sie existierte, Ausland. Sogar noch mehr Ausland als Österreich oder Italien, denn dort fuhr man hin, im Gegensatz zur DDR, deren Grenze ich nördlich von Coburg das erste und einzige Mal sah. Da würden wir nie hinfahren, sagten meine Eltern, da durfte man nicht hin. Da gab es nichts, was man haben wollte, auf gar keinen Fall. Die DDR war schlimmer als Jugoslawien und Ungarn zusammen, das war klar. Und Jugoslawien in den 8oern war schon schlimm genug, denn da konnte es passieren, dass im ganzen Adria-Urlaubsort Lanterna sämtliche Sorten Fruchtsäfte tagelang ausverkauft waren.
Wegen der andauernden Not schickten wir, seit ich denken kann, den Freunden und Verwandten meiner Mutter Pakete in die DDR. Dallmayr Kaffe war da drin, Paradiescreme-Pulver, Dr. Oetker Pudding, Milka-Schokolade und allerlei anderes. Wir schickten auch T-Shirts, Kettengürtel und Strickpullover aus Glitzergarn, die es allesamt günstig im Schlussverkauf oder auf dem Markt gab, in die DDR. Weil es dort einfach gar nichts gab, sagte meine Mutter. Dafür hatte ich - wie exotisch - in der Grundschule eine Brieffreundin aus Schwerin, was sonst niemand hatte. Und zu sagen „Meine Mutter kommt aus der DDR“ war viel exotischer als zu sagen, „meine Mutter kommt aus Italien“.
Was ich nicht verriet war, was aus der DDR als Dankeschön in Weihnachts- und Geburtstagspaketen zu uns zurück kam. Schallplatten mit Covern aus grauem Pappdeckel, grob und in Erdtönen bedruckt. Für mich mit Märchengeschichten, für meine Eltern mit klassischer Musik. Echte Kunstwerke und Lithografien von echten Künstlern, in grauem Papier eingewickelt. Bücher mit russischen Märchen. Oder Sagen aus Mecklenburg. Ein bisschen peinlich, damals. Aber ich habe die Kunstwerke und einige Bücher „von drüben“ bis heute. Meine Ausgabe der „Schatzinsel“. Oder Sigmund Jähns Band über seinen Weltraumflug als Kosmonaut der DDR, aus dem Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik, mit einem Klappentext von Erich Honecker. Ein echter Schatz.
Dass die Gemüsemischung „Leipziger Allerlei“ nach einer Stadt in eben dieser DDR benannt war, war mir als Kind erst gar nicht klar, ebenso wenig, wie ich bei der Bohnensuppe an Serbien dachte. Das Fertiggemüse schmeckte nicht besonders gut oder hochwertig, sondern nach Verpackung und zweiter Wahl, über die man sich aber aus Rücksicht nicht beklagen wollte. Spargel, Erbsen, Karotten, tiefgefroren oder aus der Dose. Sie begegneten mir als Beilage zu in der Pfanne kurzgebratenem Kotelett oder einem vergleichbarem Fleischbatzen. Als Kind war ich keine Freundin von Spargel oder Erbsen, aber ein großer Fan des Gemüseeintopfs meiner Mecklenburger Großmutter, der vor allem aus frischen Möhren, Kartoffeln und Petersilie bestand.
Die Geschichten aus dem fernen, sozialistischen Ausland, die meine Mutter erzählte, waren dagegen wirklich exotisch, und sie faszinierten mich so, wie die Erzählungen meines Kumpels Bakur Abdulaziz über seine Kindheit in Saudi-Arabien, aktuell eines der ganz, ganz, ganz wenigen Länder auf der Welt, in denen kein Krieg herrscht, in die man als Tourist aber trotzdem nicht einfach einreisen darf. In der internationalen Wahrnehmung heute also ein bisschen so wie die DDR in den 80er Jahren, nur vergoldet und mit Diamanten besetzt. Meine Mutter erzählte davon, wie sie und ihre Cousins Wolfgang, Jochen, Gitti und Renate Stachelbeeren von den Stauden des Nachbarn klauten, im Baum saßen und Kirschkerne spuckten, in den Stockbetten im Kinderzimmer der Großfamilie die Nächte durchmachten, oder wie sie im Pfaffenteich schwammen. Ich habe da nicht recht verstanden, was so schlimm daran gewesen war, in der DDR zu leben. Auch die Lieder, die meine Mutter und meine Großmutter mir beibrachten und mir gleichzeitig sagten, ich solle sie draußen nicht wirklich singen, waren nicht schlecht. „Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.“ Konnte ich schon im Kindergarten. Auch den Gruß: „Pioniere - seid bereit! - Allzeit bereit!“, dazu die Hand an die Stirn. Das konnte sonst niemand. Auch nicht Plattdeutsch singen: „Wenn hie ’n Pott mir Bohnen stet und do ’n Pott mit Brie, na lass ick Pott un’ Bohnen steen und tanz mit mie Marie. Wenn mie Marie nit tanzen ka, na hett se scheefe Been, na treck ick ihr ’n lang Kleedrock an, na is dat nit zu seen.“ Damit konnte man in der Grundschule mehr Eindruck schinden als mit griechischen Volksliedern.
Wie ich als Jugendliche darauf kam, dass alle Ossis hässlich, doof, rückständig, lebensuntüchtig, erbärmlich und Mitleid erregend sind, weiß ich selbst nicht mehr. Vielleicht lag es an dem überschwänglichen Dankesbrief, den wir bekamen, nachdem wir bei „Candy and Company“ eine sehr, sehr billige Digitaluhr - mit der man sich nicht mal in Bayern hätte blicken lassen können - in eine Konservendose voller Marshmallows hatten einschweißen lassen und diese in die DDR schickten. Vielleicht lag es daran, dass mir aufging, dass wir sehr hochwertige Geschenke bekamen (echte Lithographien von echten Künstlern), während wir die Lebensmittel „für die DDR“, die wir in Pakete packten, in dem ungepflegten Discounter kauften, in den meine Mutter sonst eher ungern ging. Oder es lag an Conny und Romy, die im September 1989 an meinem Gymnasium auftauchten, einen grauenhaften Dialekt sprachen und aus „Koooal-Moooax-Stooodt“ kamen. Die Klamotten, die Conny und Romy trugen, schienen von einem anderen Stern zu sein, während wir unsere extra-großen, mit Smiley-Buttons und kunstvollen Rissen verzierten DieselJeans ausführten und Bügelverschlüsse von Bierflaschen auf die Schuhe montierten.