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Kapitel 5.

Als ich tags zuvor angekommen war, mußte ich wohl sehr müde gewesen sein, wahrscheinlich eine Folge der Zeitverschiebung nach dem Flug. Denn als ich mit John Treadwell in die schneidend kalte Morgenluft hinaustrat, kam es mir vor, als sähe ich diese Umgebung zum ersten Mal. Das Parioli-Viertel bestand größtenteils aus Mietshäusern, vereinzelten ruhigen Hotels, dazwischen kleine Läden und Privathäuser. Die Straßen zwischen den hoch aufragenden Mietshäusern aus rotbraunen Ziegelsteinen waren eng und gewunden. Überall ragten Balkone hervor, die teils mit grünen, teils mit halb vertrockneten Pflanzen überwachsen waren. Die Fußgänger, die an uns vorübergingen, meist Italiener, aber auch eine ganze Anzahl von Ausländern, waren durchweg freundlich und grüßten uns oft auf englisch. Hin und wieder ratterte ein klappriges Auto an uns vorbei, ein paar Motorroller und ein Reisebus. Die rissigen Gehsteige wurden von Bäumen gesäumt und wimmelten von Katzen. Sogar vor den Türen eines Hotels sah ich eine ganze Ansammlung von Katzen, die dort herumschlichen, als ob sie sich zu einer Art Hexensabbat verabredet hätten. Was ich sah, gefiel mir. Es kam mir alles so fremdländisch und bezaubernd vor.

»Sollen wir zu Fuß gehen?«

»Ist es weit?«

»Es ist schon eine Strecke bis zur Innenstadt. Aber es geht die ganze Zeit bergab. Und wir kommen an einigen entzückenden Stellen vorbei. Aber wenn Sie Bedenken haben, können wir uns auch den Bus Nummer zweiundfünfzig schnappen. Er bringt uns für nur fünfzig Lire ins Zentrum.«

»Bedenken« war nicht das richtige Wort. Ich mußte vor allem Adele finden, und das würde nicht leicht werden.

An diesem Morgen war mir beim Aufwachen gleich wieder dieser Achmed Raschid eingefallen. Da ich mich versichern wollte, daß die Begegnungen mit ihm rein zufällig gewesen waren, hatte ich mich an der Rezeption nach seiner Zimmernummer erkundigt. Wie sich herausstellte, war Achmed Raschid kein Gast im Palazzo Residenziale, und so müßte es schon ein ganz außerordentlicher Zufall gewesen sein, daß ich ihn zuerst am Flughafen, dann in der Empfangshalle und schließlich vor dem Zeitschriftenladen gesehen hatte.

Aber es ging mir vor allem um Adele. Ihretwegen war ich nach Rom gekommen, und ich würde nicht ruhen, bis ich sie gefunden hatte. »Können wir den Bus nehmen? Das wäre mir lieber.« Wir gingen bis zur nächsten Straßenecke hinunter und stellten uns unter ein Schild, auf dem das Wort FERMATA stand. Während wir warteten, erzählte mir John einiges über die Sehenswürdigkeiten, die wir besuchen würden, und ich bückte mich, um ein paar Katzen zu streicheln, die zu unserer Begrüßung herbeieilten. »Rom ist eine Katzenstadt«, erklärte John, wobei er auf die Uhr schaute. »Ich bin schon dreimal hier gewesen, und jedesmal bin ich aufs neue darüber erstaunt.«

»Es sind ziemlich viele.«

»Warten Sie nur ab.«

Ein großer grüner Bus hielt vor uns, und wir stiegen durch die hintere Tür ein. Wir warfen Fünfzig-Lire-Stücke in die Schlitze der Fahrkartenautomaten und nahmen die kleinen weißen Fahrscheine entgegen. Ich setzte mich ans Fenster, während John alles, was wir sahen, fortlaufend kommentierte.

Rückblickend ist es schwer zu sagen, was mich mehr in Staunen versetzte, der viele Verkehr oder die vielen Bäume.

Wie ich bald erfahren sollte, lieben die Römer Gärten und Grünanlagen ebensosehr, wie sie es lieben, mit ihren Autos herumzufahren.

Obwohl die vorherrschende Farbe eine Art Rostrot war, zogen auch viele Hotelneubauten und hypermoderne, spiegelnde Bürogebäude an uns vorbei. Neben alten Renaissance-Fassaden ragten Hochhäuser aus Beton, Metall und Glas empor wie in amerikanischen Großstädten. Da ich aus einer Stadt kam, wo es nur wenige architektonische Gegensätze gab, war ich von der Vielgestaltigkeit Roms hingerissen. Natürlich galt dies nur für die Vororte außerhalb der Stadtmauern. Als wir erst einmal durch eines der antiken Tore der Aurelianischen Mauer gefahren waren, entdeckte ich eine völlig andersartige Schönheit. Private Villen waren von hohen Mauern und üppigen grünen Gärten umgeben. Öffentliche Gebäude zeichneten sich durch klare Linien und klassische Fassadengestaltung aus. Und überall dominierte diese bräunliche Farbe, die mal mehr zu Ocker, mal mehr zu Zinnober tendierte. Ich machte darüber eine Bemerkung zu John: »Es ist erstaunlich!« sagte ich. »Ich habe niemals eine Stadt wie diese hier gesehen.«

»Die Römer legen großen Wert darauf, daß ihre Stadt einheitlich wirkt, und haben daher strenge Bauvorschriften innerhalb der Stadtmauern. Alle neuen Gebäude müssen so aussehen wie die alten.«

»Mir gefällt das sehr!«

»Es gibt eine Ausnahme, die ich Ihnen später zeigen werde. Wir sind fast an der Endstation der Buslinie angelangt. Wohin möchten Sie zuerst gehen?«

Darauf konnte ich keine Antwort geben. Wie würden Römer es anpacken, um vermißte Römer aufzuspüren? In Adeles Fall war der einzige Anhaltspunkt das Hotel Palazzo Residenziale gewesen, das mich aber nicht weitergebracht hatte. »Ich weiß es nicht, John.«

»Wie wär’s dann mit etwas zu essen?«

Wir stiegen durch die Vordertür aus dem Bus und standen auf einer verkehrsreichen Straße. John führte mich eine Seitenstraße hinunter in eine kleine Bar, die neben einem Blumenladen lag. Vom Aussehen her genau wie eine Jahrhundertwende-Apotheke, hatte das kleine Lokal einen Tresen und einen einzigen Tisch am Fenster. Wir setzten uns an den Tisch, wobei wir die Blicke der Einheimischen auf uns zogen, die offensichtlich nicht an Touristen in ihrer Umgebung gewöhnt waren.

»Jetzt erzählen Sie mir mal«, begann John, während er Unmengen von Kondensmilch in seinen starken Kaffee goß, »wo denn eigentlich das Problem mit Ihrer Schwester liegt.«

Ich schaute ihn an. »Verzeihen Sie. Ich habe es Ihnen noch gar nicht erzählt.« In knappen Worten berichtete ich ihm von den Umständen, die mich nach Rom geführt hatten, und beobachtete, wie sich sein attraktives Gesicht in Falten legte.

»Das ist ja eine tolle Geschichte!« urteilte er nach einem Augenblick.

»Meinen Sie?« Mit einem Mal war ich wegen seiner Ansicht beunruhigt. Denn schließlich würde er die Dinge ja unvoreingenommen und objektiv betrachten und mich vielleicht als ein wenig hysterisch bezeichnen. »Mache ich mir für nichts und wieder nichts Sorgen?«

»Nein, so würde ich das ganz und gar nicht sehen. Wenn ich von einem lange Zeit verschwundenen Verwandten einen dringenden Anruf vom anderen Ende der Welt bekäme, wenn ich mit der Post so ein komisches Ding erhielte, wenn meine Wohnung durchsucht würde und wenn ich schließlich herausfände, daß mein so lange verschollener Verwandter noch immer verschollen wäre, dann würde ich mir ganz entschieden Sorgen machen.«

»Ich befürchtete, daß Sie das sagen würden. Adele muß sich diesmal wirklich in irgend etwas verstrickt haben.«

»Darf ich diesen Schakal einmal sehen?«

»Oh, ich habe ihn nicht dabei. Aber keine Sorge, er befindet sich an einem sicheren Ort.«

»Ich verstehe. Das kostbare Kleinod, haha!«

»Es muß in der Tat wertvoll sein. Das immerhin scheint trotz aller übrigen Rätsel festzustehen.« Ich dachte an Achmed Raschid, den ich John gegenüber nicht erwähnt hatte, und fragte mich, welche Rolle er wohl bei dem Ganzen spielte. Falls er überhaupt etwas damit zu tun hatte. »Ich schätze es, daß Sie mir helfen wollen, John, aber ich weiß, daß Sie geschäftlich hier in Rom zu tun haben.«