Выбрать главу

Geschichte gelebt: Augustus, Tiberius, Livia, Caligula,

Claudius, Messalina.

Wieder blickte ich in die Höhle jenseits der Gitterstäbe. Kaum zu glauben, daß dies auch der Wohnsitz Neros gewesen war, des furchterregendsten Tyrannen in der römischen Geschichte und einer der schrecklichsten Figuren der ganzen Weltgeschichte. Er war der Wahnsinnige, der entartete römische Kaiser, der Rom in Brand gesteckt hatte und der vermutlich auch die Apostel Petrus und Paulus hatte umbringen lassen. Und dies war sein Haus. In meinen Gedanken wurde ich von einer üppigen Dame unterbrochen, deren. Oberschenkel beim Gehen ein raschelndes Geräusch von sich gaben. »Sind Sie Engländerin?« fragte sie.

»Amerikanerin.« Ich blinzelte zu ihr herauf, konnte aber kaum mehr als ihre Silhouette wahrnehmen, die von der Sonne wie mit einem Heiligenschein umgeben wurde.

»Wunderbar! Ich auch.« Sie setzte sich neben mich und legte ihre kleine, dickliche Hand auf meinen Arm. »Ist das nicht aufregend? Ist es nicht ausgesprochen hinreißend?«

»Die Domus Aurea?«

»Rom, meine Liebe! Sind Sie mit einer Reisegruppe hier?«

»Nein, allein.«

»Wir auch. Die Gruppenreisen haben dieses Jahr wegen der Inflation ihre Angebote reduziert. Aber meine Mutter und ich haben jahrelang für diese Reise gespart, und nichts konnte uns davon abbringen. Sind Sie schon einmal da drinnen gewesen?. Nein? Ich bin schon zum zweiten Mal hier. Sie werden es einfach nicht glauben, wenn Sie das hier betreten, besonders nicht, nachdem Sie die wunderschönen Paläste auf dem Palatin gesehen haben. Waren Sie schon dort? Nun, dies ist etwas ganz anderes. Hier ist es fürchterlich dunkel und unheimlich. Wie in einer schwarzen Höhle. Man kann sich richtig vorstellen, daß da drinnen Geister leben. Das jagt einem wahre Schauer den Rücken hinunter!«

Ich schaute wieder in die Schwärze jenseits der eisernen Gitterstäbe, eine Schwärze, die sich tief in den Hügel hinein erstreckte, die aber keinen Hinweis darauf gab, was darunter verborgen lag. Für einen Augenblick hatte ich den Eindruck, es handele sich um ein Grabgewölbe.

»Natürlich stand das Goldene Haus einst im Sonnenlicht, aber im Laufe der Jahrhunderte wurde es verschüttet. Drinnen befindet sich das phantastischste Labyrinth, das Sie sich vorstellen können. Es sind noch ein paar Wandgemälde und Mosaikböden übrig, aber es ist alles so gruftartig und furchterregend. Es ist mein Lieblingsort in Rom!« Ich lächelte der Frau mit den leuchtendroten Lippen und dem Hang zum Gruseligen höflich zu. Sie war aufgeregt und lebhaft, und ich spürte selbst ein wenig davon. Was immer auch hinter diesem Eisentor aus dem zwanzigsten Jahrhundert liegen mochte, es gehörte einem anderen Bereich an, einem geheimnisvollen Bereich. »Nero lebt in diesen Mauern weiter«, plapperte sie. »Sein Geist ist tatsächlich schon gesehen worden!«

»Das hört sich wirklich ziemlich aufregend an.« Ich sah mich nach John um. Es war fast zwanzig nach zehn.

»Horchen Sie.« Sie faßte sich mit ihrer dicken Hand ans Ohr. »Die letzte Gruppe kommt zurück.«

Während ich auf die gedämpften Geräusche von Schritten und Stimmen lauschte, versuchte ich angestrengt, eine Bewegung hinter den Gitterstäben auszumachen. Dann tauchte ein Funke auf. Er wurde größer, und als er immer näher herankam, erkannte ich, daß es sich um die Taschenlampe des Führers handelte, der eine Handvoll Touristen ans Tageslicht zurückgeleitete. Die Tore öffneten sich quietschend, und einer nach dem anderen gaben die Fremden dem Italiener Trinkgeld und dankten ihm in verschiedenen Sprachen. Als sie feierlich an mir vorübergingen, suchte ich in ihren Gesichtern nach einer Reaktion.

Aber diese Gesichter waren seltsam ausdruckslos. Keiner sprach. Es war unmöglich, ihre Gedanken zu lesen. Plötzlich überkam mich eine unglaubliche Neugierde, mit eigenen Augen zu sehen, was von dem fürchterlichen Nero tatsächlich noch übrig war. Ich hörte meine amerikanische Freundin fragen: »Wollen wir hineingehen?«

»Nun, ich.« Ich schaute mich um und sah, wie die anderen sich um den rundlichen, kleinen Führer scharten. »Wann ist die nächste Führung?«

»In einer Stunde.«

Unschlüssig stand ich da. Dann warf ich einen letzten Blick um mich herum. John war nirgends in Sicht. »Ja, gehen wir hinein.« Ich rannte zum Kartenschalter und kaufte spontan eine Eintrittskarte für tausend Lire. Als ich zu der kleinen Gruppe stieß, war der Führer eben dabei, die Teilnehmer zu zählen. Als er fertig war, rief er dem Mann im Kartenhäuschen »Seil« zu, worauf dieser die Zahl sechs auf ein Stück Papier kritzelte. Dann richtete der Führer das Wort an uns: »Ihr alle sprechen Englisch? Sehr gut. Giovanni sprechen Englisch am besten. Und nur eine Sprache. Manche Tage ich haben Deutsche, Francese, mamma mia, sogar Griechen! Heute ist leicht für Giovanni. Wir gehen los, ja? Immer dicht bei Papa bleiben.« Er zog das Tor auf, und alle sechs traten wir furchtlos in den kalten Tunnel. »Sehr leicht Sie können sich verirren in Neros Haus. Bleiben bei Papa. Nicht weglaufen.«

Wir hielten uns alle dicht beieinander, als wir über den unebenen Fußboden stolperten und dem schwachen Schein von Giovannis Taschenlampe tiefer unter die Erde folgten. Je weiter wir vordrangen, um so vollständiger wurde die Finsternis, bis mir vom angestrengten Sehen die Augen schmerzten. Zum erstenmal im Leben konnte ich mir vorstellen, was es bedeuten mußte, blind zu sein, und der Gedanke daran machte mir angst. Giovannis Licht war wie ein richtungweisender Finger. Wir mußten folgen.

Als wir zum erstenmal unter gegenseitigem Anrempeln haltmachten, starrten wir alle mit hervorquellenden Augen in dem Raum umher und auf die vielen Türöffnungen, die in andere Teile des Gewölbes führten. Während Giovanni sprach und die Verbrechen und Greueltaten der »Neroni Imperatori« ausmalte, kam es mir mit einem Frösteln zum Bewußtsein, wie notwendig es war, die Besucher vor dem Betreten zu zählen und sich dicht bei dem Mann mit der Taschenlampe zu halten. Völlig dunkel und labyrinthisch war Neros irrsinnig angelegter Palast eine todsichere Falle für verlorene Schafe.

Wir schlurften von Raum zu Raum und lauschten hingerissen den beredten Erzählungen des Italieners von den Legenden, die dieses geheimnisvollste aller römischen Baudenkmäler umgab, und ich wünschte im nachhinein, ich hätte auf John gewartet. Zehn Minuten hatten wir sechs uns bereits durch enge Flure und klamme Gemächer geschoben, als es passierte. Giovanni hatte gerade ein paar Spukgeschichten über Neros ruhelosen Geist zum Besten gegeben und führte die anderen aus dem Zimmer hinaus, während ich zurückblieb, um einen letzten Blick auf das vor mir liegende Wandgemälde zu werfen.

Im nächsten Augenblick spürte ich einen Schlag auf den Kopf, einen stechenden Schmerz und dann eine Schwärze, die noch finsterer war als die in Neros Goldenem Haus.

Kapitel 6.

Ich erwachte mit einem merkwürdigen Klingen in den Ohren und einem säuerlichen Geschmack im Mund. Als ich die Augen zögernd aufschlug, nahm ich zunächst nur verschwommene Farben und bizarre Formen wahr. Doch als ich langsam das Bewußtsein zurückerlangte, gewann ich auch allmählich wieder ein zusammenhängendes Bild von meiner Umgebung.