»Ich weiß. Ich bin ja schließlich Krankenschwester, erinnern Sie sich? Wenn sich bei mir irgendwelche Symptome zeigen, gehe ich zurück ins Krankenhaus. Aber bis dahin habe ich Dringlicheres zu tun.«
»Seien Sie doch bloß nicht so unvernünftig, Lydia!« Da mußte ich lachen. »Sie kennen mich nicht sehr gut, John Treadwell. Ich habe in meinem ganzen Leben noch keine unvernünftige Handlung begangen.«
»Das kann ich nicht beurteilen. Nach dem zu schließen, was Sie mir erzählen, haben Sie jedenfalls in den letzten paar Tagen nicht ein einziges Mal vernünftig gehandelt.« Ich starrte ihn verblüfft an. Er hatte recht.
Im Hotel Palazzo Residenziale angelangt, lief ich als erstes an die Rezeption und erkundigte mich wie üblich nach einem Lebenszeichen von Adele, erhielt aber wieder eine abschlägige Antwort. Dann verabschiedete ich mich in der Empfangshalle von John. »Ich lasse Sie gar nicht gerne allein, Lydia.«
»Ist schon in Ordnung.« Mein Kopf pochte so heftig, daß ich sicher war, jeder müßte es hören. »Ich kann schon auf mich selbst aufpassen. Zuerst werde ich einem Freund daheim einen Brief schreiben.« Meine Stimme wurde schwächer, als ich Dr. Kellerman wieder vor mir sah. »Vielleicht rufe ich ihn auch einfach nur an. Dann lege ich mich für eine Weile aufs Ohr.«
»Ich komme gegen acht Uhr zum Abendessen zurück. Abgemacht?«
»Bitte, kommen Sie zurück, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich Lust habe zu essen.«
Als ich mich zum Gehen wandte, legte er mir eine Hand auf den Arm und meinte leise: »Sie glauben zu wissen, was es mit Adele und diesem Schakal auf sich hat, aber Sie trauen mir nicht genug, um mir davon zu erzählen.«
Seine Worte überraschten mich. »Zunächst einmal, John, habe ich keine Ahnung, was mit Adele und diesem Schakal vor sich geht, und kann mir auch nicht den geringsten Reim darauf machen. Zweitens traue ich Ihnen durchaus, andernfalls hätte ich Ihnen nicht so viel erzählt. Und drittens behalte ich nur deshalb jegliche Gedanken, die ich mir über dieses Rätsel mache, für mich, weil ich Sie nicht in dieses absurde
Melodram verwickeln will, in das Sie so unschuldig hineingeschlittert sind. Ich will Ihnen gegenüber fair sein, John.«
»Wenn Sie mir gegenüber fair sein wollen, Lydia, dann lassen Sie es zu, daß ich Ihnen, so gut ich kann, helfe. Sie denken, jemand hat es darauf angelegt, Ihnen zu schaden, und vielleicht haben Sie recht. Wenn dies aber der Fall ist, brauchen Sie Schutz.«
»Ich bin sicher, solange ich in diesem Hotel bin. Danke, daß Sie sich um mich sorgen. Ich weiß das zu schätzen. Aber im Augenblick möchte ich eine Weile allein sein. Lassen Sie mich zwei Aspirin nehmen und richtig ausschlafen. Später, wenn meine Gedanken wieder klarer sind, erzähle ich Ihnen genau, was ich denke. Aber jetzt.« Ich seufzte tief. »Jetzt fühle ich mich elend.«
Mit einem widerwilligen Achselzucken legte er mir die Hände auf die Schultern und schaute mir tief in die Augen. Für den Bruchteil einer Sekunde wünschte ich, Dr. Kellerman stünde vor mir. Dann lächelte ich John dankbar an, und er gab mir einen Abschiedskuß. Mit den größten Befürchtungen fuhr ich zu meiner Suite hinauf. Es war nicht die Angst vor einem erneuten tätlichen Angriff, die mich in diesen Gemütszustand versetzte, sondern vielmehr der nervenaufreibende Argwohn, mit dem ich mich fragte, was ich auf der anderen Seite meiner Tür wohl vorfinden würde. Leider behielt ich recht. Was ich vermutet hatte, war tatsächlich eingetreten, und die Spuren davon waren so bedrückend augenfällig, daß ich am liebsten geheult hätte.
Mein Zimmer war durchsucht worden.
Es war hier nicht so ordentlich vorgegangen worden wie daheim in meinem Appartement in Malibu, und man konnte augenblicklich erkennen, was geschehen war. Einige Schubladen waren nicht ganz geschlossen. Ein Wandschrank stand offen. Mein Koffer stand nicht mehr aufrecht, sondern lag flach am Boden. Sogar das Bett war hastig durch wühlt worden. Und die Bilder hingen ein wenig schief. Ich stand sprachlos mit dröhnendem Kopf im Türrahmen und fühlte mich auf einmal ganz hilflos. In der Domus Aurea hatte mich einer dieser fünf Touristen durch einen Schlag ohnmächtig gemacht, um sich selbst oder einem Komplizen Zeit zu geben, meine Habe nach dem Schakal zu durchsuchen.
Gleichzeitig mit dieser Erkenntnis kam mir eine weitere: Sie würden wahrscheinlich vor nichts zurückschrecken, um den Schakal zu bekommen.
Ich schlenderte zu dem Vorhang, hinter dem sich die Tür befand, die auf den Balkon führte, und griff mit beiden Händen danach, als wollte ich ihn aufziehen. Dabei hob ich vorsichtig den Fuß und tippte mit einer Zehe gegen den Saum des Vorhangs. Ich fühlte einen harten Gegenstand. Der Schakal befand sich noch immer in Sicherheit. Der Platz im Vorhangsaum war also eine kluge Wahl gewesen. Ich war jetzt froh, daß ich sein Versteck geändert hatte. Zumindest für eine Zeitlang gehörte der Schakal noch mir.
Dies bedeutete jedoch auch, daß ich weiterhin in Gefahr schwebte. Ich zog die Vorhänge auseinander, starrte durch die Glastür auf das gegenüberliegende Wohnhaus. Ich stand vor der Alternative - entweder überließ ich den Schakal irgendwem und kehrte unversehrt nach Hause zu meinem ruhigen Leben und zu Dr. Kellerman zurück, oder ich behielt ihn hartnäckig, bis Adele und mir wegen seines Besitzes irgend etwas zustieß. Eine leicht zu treffende Entscheidung. »Wie fühlen Sie sich, Miss Harris?« Ich hielt den Atem an und fuhr herum. Achmed Raschid stand im offenen Türrahmen und wippte gelassen auf der Schwelle. »Warum fragen Sie das?« Ich legte eine Hand auf meine Brust, als wollte ich mein rasendes Herz beruhigen.
»Ich habe zufällig einen Anruf mitbekommen, den das Hotel vom Krankenhaus auf der Tiberinsel erhielt. Ich erkundigte mich nach Ihrem Befinden und erfuhr von dem Unfall, den Sie erlitten haben. Die Domus Aurea ist ein gefährlicher Ort für den Besucher, der ihre Tücken nicht kennt. Unebene Fußböden, niedrige Decken.«
»Ja, es war dumm von mir.«
Als wir einander durch den Raum hindurch musterten, fiel mir auf, daß ich zum erstenmal sein Gesicht sehen konnte. Er hatte die Sonnenbrille abgesetzt, und darunter zeigten sich große, ausdrucksvolle Augen und dichte, schwarze Wimpern, die seinem Blick eine beunruhigende Note verliehen. Achmed Raschid hatte eine Art, durch einen Menschen hindurch zu sehen, als wäre er imstande, einen mit seinen morgenländischen Blicken zu durchbohren.
Ich fuhr mir mit der Hand über die Stirn und stellte fest, daß ich schwitzte. Mein Hinterkopf fühlte sich, als wolle er zerspringen, und das schmerzhafte Pochen verursachte mir eine zunehmende Übelkeit. Indessen hielt ich dem Blick des Arabers stand und starrte unerschrocken zurück.
»Haben Sie Ihre Schwester gefunden?«
Ich wollte schon sagen: »Sie wissen doch genau, daß ich sie nicht gefunden habe.« Statt dessen antwortete ich nur: »Nein.«
»Das ist bedauerlich. Ich fürchte, Ihr Aufenthalt in Rom ist von unglücklichen Umständen begleitet. Ich wünschte, ich könnte Ihnen behilflich sein.«
»Das können Sie, wenn Sie jetzt gehen«, entgegnete ich grob. »Ich fühle mich überhaupt nicht wohl.« Ziemlich verwegen schritt ich durchs Zimmer und ergriff mit klammer Hand die Türklinke. Da ich erkannte, daß mir gleich fürchterlich schlecht würde, wollte ich diesen Mann um jeden Preis so schnell wie möglich loswerden. »Sie sehen nicht gut aus«, vernahm ich seine Stimme unter dem Hämmern in meinem
Kopf. »Sie sind ganz weiß, Miss Harris. Miss Harris?« Ich sah, wie er seine dunkelbraune Hand nach mir ausstreckte und mich am Arm packte. »Können Sie mich hören?«
»Mir geht’s gleich wieder g.« Dann gaben meine Beine nach. Schon erwartete ich, mit dem Gesicht auf den Fußboden aufzuschlagen, da spürte ich plötzlich zwei starke Arme um meine Taille, und wie durch Zauberhand wurde ich von der Tür weg befördert. Während das Zimmer um mich her vor meinen Augen verschwamm, spürte ich, wie ich mit etwas erhöht plazierten Füßen auf die Couch gelegt und eine Decke über mich gebreitet wurde. Im nächsten Augenblick war der Ohnmachtsanfall vorüber, und ich schaute beim Aufblicken in die großen Augen von Achmed Raschid.