Wie die Dinge nun einmal standen, hatte seine Gegenwart an meiner Seite, während wir das Mittelmeer überflogen, eine beruhigende Wirkung auf mich. Es fiel mir leichter, meine Gedanken zu ordnen, meine finanzielle Situation abzuschätzen und sogar über mögliche Alternativen nachzudenken, falls Adele nicht zu finden wäre. »Vielleicht will sie einfach, daß Sie ihr um die Welt folgen«, meinte John.
Ich nickte und sah mein Spiegelbild in der Fensterscheibe, die von einem schwarzen Himmel hinterfangen wurde. Wir würden um drei Uhr morgens in Ägypten landen. »Es ist bestimmt nicht von Vorteil für Sie, John, daß Sie Ihre Arbeit einfach so im Stich lassen.« Er nahm meine Hand und antwortete beschwichtigend: »Das haben wir doch alles bereits durchgesprochen. Ich werde bei Ihnen bleiben, bis Sie Ihre Schwester gefunden haben. Ich bin zwar noch nie in Ägypten gewesen, aber ich kann mir denken, daß es nicht der geeignete Ort für eine alleinreisende junge Frau ist. In Kairo treiben sich bestimmt eine Menge finsterer Gestalten herum.« Ich nickte wieder und dachte dabei an Achmed Raschid. Abermals hatte ich beschlossen, John nichts von ihm zu erzählen. Er war in Rom zurückgeblieben, und ich war seinen nervtötenden, plötzlichen Auftritten entronnen. Warum sollte ich noch mehr Verwirrung in die Angelegenheit bringen?
Am internationalen Flughafen von Kairo, der fünfzehn Kilometer außerhalb der Stadt in der Wüste liegt, mußten für unsere Ankunft offensichtlich erst einige Leute extra geweckt werden, denn John und ich waren die einzigen Passagiere, die in Kairo von Bord gingen. Jede Menge uniformierte Araber, alle zuvorkommend und freundlich, waren zu unserer Abfertigung erforderlich, als wir durch den Zoll gingen, vorbei am Visum-Schalter, an einem Schalter der ägyptischen Nationalbank, an der Gesundheitskontrolle und so weiter. Während wir unser Geld in ägyptische Pfunde eintauschten, was uns den Erwerb befristeter Visa ermöglichte, wurden John und ich überall von freundlichen, lachenden Menschen begrüßt. Als wir dann endlich, nach zahlreichen Willkommensrufen und guten Wünschen in Arabisch und gebrochenem Englisch, in den Flughafen selbst entlassen wurden, liefen wir, behutsam einen Schritt vor den anderen setzend, über die Fußböden, die gerade mit peinlicher Sorgfalt gesäubert wurden. Wir hatten keine Schwierigkeit, vor dem Gebäude ein Taxi zu bekommen. Ein verschmitzt lächelnder Araber nahm unsere Koffer entgegen und ließ uns in sein kleines Auto einsteigen, das innen mit Blumen, Papiervögeln und bunten Gebetsketten geschmückt war. John sagte: »Shepheard’s Hotel«, und schon ging es los. Obwohl die Straßen zu dieser nächtlichen Stunde leer waren, empfand ich unsere Fahrt als qualvoll, vor allem wegen des mörderischen Tempos. Der Fahrer raste wie wahnsinnig, und mich beschlich das beklemmende Gefühl, daß es sich in dieser Stadt mit allem so verhalten könnte. Ich erinnerte mich an den haarsträubenden Verkehr in Rom und ahnte, daß ich in Kairo noch viel wachsamer sein mußte. Da es finstere Nacht war, sah ich vom Taxi aus wenig von Kairo, doch bemerkte ich vage, daß wir die ebene Wüste hinter uns gelassen hatten und durch ausgedehnte Vororte fuhren. Dann setzten wir unseren Weg durch enge Straßen fort, bis wir in der Innenstadt landeten. Dort fuhren wir um einen großen Platz herum, der von orangefarbenen Straßenlaternen spärlich erleuchtet wurde. Und als wir an einem gewaltigen, hoch aufragenden Gebäude vorüberkamen, streckte unser Fahrer den Zeigefinger aus und erklärte: »Hilton Hotel«, als erwartete er, uns damit zu beeindrucken. Zwei Häuserblocks weiter hielten wir vor dem Shepheard’s Hotel.
Trotz meiner Müdigkeit sprang ich geschwind aus dem Taxi, eilte die Stufen hoch, drückte die schwere Glastür auf und ging schnurstracks zur Anmeldung, wo ich einen dösenden Angestellten aus dem Halbschlaf schreckte. Zuerst murmelte er etwas in Arabisch, dann meinte er: »Willkommen in Kairo« und bedachte mich mit seinem freundlichsten Grinsen.
Auch ich verzog meinen Mund zu einem hoffnungsvollen Lächeln und stieß ein wenig atemlos hervor: »Können Sie mir die Zimmernummer von Miss Adele Harris nennen? Sie ist Amerikanerin. Adele. Harris.«
»Gewiß, Madam.« Er schlug ein dickes Buch auf, beugte sich über die letzte Seite und fuhr mit dem Finger die Zeilen hinunter. »Wie war doch bitte der Name?«
»Harris. H-a-r-r-i-s. Adele Harris.«
Ich beobachtete, wie der braune Zeigefinger sich Zeile um Zeile nach unten bewegte, wieder hochkam und abermals in der Spalte nach unten fuhr. Dann sah ich, wie die Augenbrauen des Arabers sich allmählich zu einem Stirnrunzeln zusammenzogen. Sein Lächeln verschwand, und seine nächsten Worte trafen mich wie ein Messerstich: »Ich bedaure, Madam, aber wir haben niemanden mit diesem Namen in unserem Hotel.«
»Doch« - ich wußte, daß ich träumte und jede Minute aufwachen würde -, »doch, sie ist bestimmt da. Sie hat mir geschrieben und mir mitgeteilt, daß sie hier wohne. Sehen Sie her!« Ich zog rasch ihren Brief aus meiner Handtasche und hielt ihn dem Angestellten beinahe anklagend unter die Nase. »Sehen Sie? Ihr eigenes Briefpapier.«
»Ja.« Er betrachtete aufmerksam den Umschlag. »Aber wo ihr Name steht, befindet sich keine Zimmernummer.« Er deutete auf den Absender. »Sie hat Ihnen ihre Zimmernummer nicht mitgeteilt.«
»Kann sie schon abgereist sein?«
»Ich werde für Sie nachsehen, Madam.«
Ungeduldig wartend lehnte ich an der geräumigen Rezeption mit ihren Postkarten von Pyramiden und Sphinxen. Irgendwo hinter mir tickte eine Uhr, und Fußtritte schlichen kaum hörbar über den blankpolierten Fußboden. Wann genau John sich zu mir gesellte, vermag ich nicht zu sagen, doch als ich voller Bangigkeit dastand und erwartungsvoll auf das Gästebuch starrte, fühlte ich plötzlich seine Hand beruhigend auf der meinen. Als der Hotelangestellte vom Empfang schließlich bedauernd meinte: »Wir hatten noch nie eine Miss Harris in unserem Hotel«, war ich den Tränen nahe. »Aber das kann doch gar nicht sein, verstehen Sie denn nicht?«
»Lydia«, ergriff John ruhig das Wort, »lassen Sie uns jetzt einfach ein Zimmer nehmen und das Problem morgen früh lösen.«
»Wäre es möglich, daß es noch ein zweites Shepheard’s Hotel gibt?«
»Nein, Madam«, versicherte der Angestellte, »dies ist eindeutig unser Briefpapier.« Er gab mir Adeles Brief zurück, und ich erkannte, daß es ihm ehrlich leid tat. »Warum sie sagt, sie sei hier, wenn sie es gar nicht ist«, er zuckte die Schultern, »das kann ich mir auch nicht erklären.«
»Wo ist sie nur?« heulte ich los. Die Rezeption fing an, sich vor meinen Augen zu drehen, und in meinem Kopf hämmerte es wieder. Der Schmerz war unerträglich. John führte mich zu einer Sitzgelegenheit und kümmerte sich um ein Zimmer. Ich war ihm dankbar dafür, daß er die Sache in die Hand nahm, aber im Grunde war es mir völlig gleichgültig. Adele hatte mich wieder in eine Sackgasse geführt.
Ein geschwätziger Page, der sein Schulenglisch an uns erprobte und uns alle möglichen Dienste anbot, um meinen Schmerz zu lindern, führte uns schließlich zu einem Hotelzimmer, das sich im achten Stock befand. Alles, was ich wollte, war, daß man mir meine Ruhe ließ. Nur zwölf Stunden zuvor war ich im Domus Aurea brutal niedergeschlagen worden und hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mich davon zu erholen. Auch sah es nicht so aus, als ob ich mich in Kairo würde ausruhen können. Zumindest im Augenblick noch nicht.