Nun schälte ich die Umhüllung vollends ab und hielt schließlich den merkwürdigsten Gegenstand in Händen, der mir je untergekommen war.
Kapitel 2.
Etwa zwanzig Zentimeter lang und aus cremefarbenem, glattem Material, vermutlich Elfenbein, hergestellt, ließ sich der Gegenstand am ehesten als so etwas wie ein dicker Brieföffner beschreiben, der an einem Ende spitz zulief und am anderen mit Schnitzerei verziert war. Fast wie ein MiniaturSpazierstock war das gelbliche Stück Elfenbein an diesem Ende mit einem ungewöhnlichen Tierkopf versehen, der von ferne an einen Hund erinnerte.
Ich muß dieses »Ding« ziemlich lange betrachtet haben, denn als ich mich endlich aus dem Bann löste, stellte ich fest, daß das Feuer niedergebrannt und die Temperatur im Raum empfindlich abgekühlt war.
Ich packte den Elfenbein-»Hund«, das Füllmaterial, die Schachtel und die Umhüllung zusammen und ging damit zu meinem Sessel hinüber, wo ich einigermaßen verwirrt niedersank. Mit großer Sorgfalt nahm ich jedes Stück Papier und den Karton nacheinander in Augenschein, fand aber zu meiner Bestürzung keine weitere Mitteilung als das Stückchen Briefpapier, auf dem das Wort VORSICHT stand. Das war alles. Kein Brief. Nichts, das mir Aufschluß darüber geben konnte, was dieser Gegenstand darstellte oder warum Adele ihn mir geschickt hatte.
War er so kostbar, daß sie seinetwegen aus Europa angerufen hatte, um mich von seiner Ankunft in Kenntnis zu setzen, und sich im nachhinein wünschte, sie hätte das Päckchen per Einschreiben geschickt? Doch was mir das größte Rätsel aufgab: Warum hatte sie ihn ausgerechnet mir geschickt?
Ich drehte und wendete das Elfenbein - mittlerweile war ich davon überzeugt, daß es sich um dieses Material handeln mußte - in meinen Händen. Es schien ziemlich alt zu sein, aber ob das wirklich so war, konnte ich natürlich nicht beurteilen. Und was das für ein »Hundekopf« sein sollte, der in das breitere Ende hineingeschnitzt worden war, erschien mir auch völlig schleierhaft. Wenn es sich dabei überhaupt um einen Hundekopf handelte. Und was für eine merkwürdige Form das Ding hatte; wie eine sich nach unten verjüngende Kerze, wobei der Hundekopf auf dem breiten Ende aufsaß. Welchem Zweck diente so etwas?
Ich war ratlos und wußte überhaupt nicht, was ich als nächstes tun sollte. Adele wollte, daß ich nach Rom komme. Warum? Sollte ich dieses. dieses Souvenir mitbringen? Aber warum hatte sie es erst hierher geschickt und dann ihr Hotel verlassen, ohne mir eine Nachricht über ihren Verbleib zu hinterlassen?
Am nächsten Tag kam mir eine Idee: Wenn irgend jemand mir einen Hinweis darauf geben könnte, was dieser Gegenstand darstellte, so war es Dr. Kellerman, denn er sammelte Antiquitäten und Kunstgegenstände. Im Krankenhaus bat ich darum, ihn besuchen zu dürfen, und er lud mich für den Abend in sein Haus ein, das ungefähr zehn Kilometer von meiner Wohnung entfernt lag. »Ich wüßte gerne Ihre Meinung in einer Sache, die mir rätselhaft erscheint«, begann ich, nachdem ich es mir in seinem Arbeitszimmer bequem gemacht hatte. Dankend nahm ich ein Glas Wein entgegen und wandte mich dem prasselnden Kaminfeuer zu. Dr. Kellermans »Bibliothek« war ein Raum, in dem ich mich stets gerne aufhielt. Er war in warmen Brauntönen gehalten und über und über voll mit Ledersesseln, alten Stichen und kleineren Skulpturen. Dicke Orientteppiche dämpften alle Geräusche, und die Bücher, die in hohen Regalen die Wände säumten, standen so dicht gedrängt, als ob sie dazu dienten, die Kälte einer nebligen Nacht auszusperren. »Ich freue mich immer, wenn ich helfen kann, Lydia. Aber seien Sie diesmal bitte nicht wieder so kurz angebunden. Sie huschen jedesmal herein und heraus wie ein scheuer Hase. Ich hoffe, daß der Nebel draußen Sie ein wenig bei mir verweilen läßt.« Er setzte sich neben mich, und der Schein des Kaminfeuers spiegelte sich in seinen Augen wider. »Nun denn, womit kann ich Ihnen dienen?« Ich erzählte ihm von dem Telefongespräch, das Adele am Tag zuvor mit mir geführt hatte. Ich unterrichtete ihn auch von meinem Anruf am Abend, bei dem ich festgestellt hatte, daß Adele abgereist war. Dann beschrieb ich ihm das Päckchen und seinen Inhalt. Und zuletzt zog ich den »Hund« aus meiner Handtasche hervor. Zuerst sagte Dr. Kellerman gar nichts. Während er den Gegenstand eingehend betrachtete und nach allen Seiten drehte und wendete, schien er völlig in Gedanken versunken zu sein. In seinen unter dichten weißen Brauen liegenden Augen erkannte ich, daß ich mit diesem Gegenstand sein Interesse geweckt hatte, und allmählich wurde mir klar, daß ich möglicherweise in den Besitz von etwas ganz Außergewöhnlichem gelangt war. Vielleicht sogar von etwas Wertvollem. »Das wurde Ihnen aus Rom geschickt, sagen Sie?« Ich nickte.
»Sehr merkwürdig. Ich habe dieses Ding schon einmal irgendwo gesehen, aber ich kann mich nicht mehr recht entsinnen, wo.« Seine blauen Augen verengten sich, als er sich zu konzentrieren versuchte. »Es sieht aus wie ein Hund, aber es ist keiner. Betrachten Sie nur einmal die Ohren. Schauen Sie, wie lang und spitz sie sind. Und die Schnauze. Ein seltsam anmutendes Tier. Wild lebend, würde ich sagen, kein Haustier. Und der Gegenstand ist tatsächlich aus Elfenbein. Aber was.?« Er schlug sich mit dem spitz zulaufenden Ende auf die Handfläche. »Wo habe ich so etwas nur schon mal gesehen?« Dr. Kellerman ließ seinen Blick durch den Raum und über die unzähligen Bücher auf seinen Regalen schweifen. Auch ich überflog mit den Augen die Buchrücken, und mit einem prickelnden Gefühl ahnte ich, daß wir vielleicht in irgendeinem dieser Bücher ein Foto von genau diesem Gegenstand finden würden.
»Jetzt fällt es mir wieder ein!« rief er plötzlich. »Es stammt überhaupt nicht aus Italien. Und ich weiß jetzt auch, wo ich es gesehen habe.« Er stand auf, lief mit großen Schritten zum entferntesten Regal, das mit dickleibigen Kunstbänden vollgestellt war. Dr. Kellerman griff zielbewußt nach einem Band in Augenhöhe, der den Titel Die Schätze des alten Ägypten trug. Er zwinkerte mir zu, wie er es so oft schon über den Operationstisch hinweg getan hatte, und kehrte dann auf seinen Platz neben mir auf der Couch zurück.
»Das ist kein Hund, Lydia. Es ist ein Schakal. Ein ägyptischer Schakal. Und es handelt sich um eine Spielfigur.«
»Eine was?«
»Eine Spielfigur. Wie ein Dame-Stein oder eine Schachfigur. Und ich wette mit Ihnen«, - er blätterte in Windeseile die Buchseiten durch, wobei er Dutzende von farbigen Abbildungen überschlug, »ich wette mit Ihnen, daß es genau hier drinnen. Aha!« Er schlug mit der flachen Hand auf eine bestimmte Buchseite. »Hier ist er ja, unser Schakal.«
Meine Augen weiteten sich vor Staunen. Wenn es nicht sogar dasselbe Stück war, das wir in Händen hielten, so war das auf dem Foto abgebildete doch ein nahezu identisches Gegenstück. Ich hörte aufmerksam zu, während Dr. Kellerman die kurze Beschreibung eines altägyptischen Brettspiels mit dem Namen »Hunde und Schakale« vorlas, das neben dem Foto von dem Elfenbeinschakal auf einer Abbildung zu sehen war. Das aus Ebenholz gefertigte Spielbrett war mit komplizierten Schnitzmustern verziert und mit symmetrischen Lochreihen durchbohrt. Das spitze Ende der Spielfigur steckte in dem Loch. Gewürfelt wurde mit Knöchelchen, die über das Weiterrücken der Spielfigur entschieden. Obgleich man heute nicht genau weiß, wie und nach welchen Regeln das Spiel damals gespielt wurde, gab es anscheinend mehrere Exemplare von jeder Figur - Hunde (die schon eher wie gewöhnliche Hunde aussahen) und Schakale. Womöglich wurden sie seinerzeit in ähnlicher Weise gerückt wie schwarze und weiße Dame-Steine. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. »Wenn die Figur echt ist, Lydia, dann, würde ich sagen, ist sie ziemlich wertvoll.« Dr. Kellerman reichte mir das Buch. Ich betrachtete mir genau das Pendant zu meinem Schakal. »Wenn das Stück wirklich aus dem alten Ägypten stammt, und ich wette, es ist so, dann haben Sie hier ein recht bemerkenswertes Souvenir.«