»Was werden wir als erstes tun, wenn wir in Luxor ankommen, Mr. Raschid?«
»Zuerst müssen wir uns ein Hotel suchen. Dann werden wir die beiden Männer abholen, die in Luxor für mich arbeiten. Wir werden sehen, ob sie Ihre Schwester gefunden haben und uns sagen können, wo sie sich aufhält. Wenn nicht, werden wir selbst ein paar Nachforschungen in den Basars von Luxor anstellen.«
Ich schüttelte den Kopf. Was hatte sich alles in kaum mehr als einer Woche in meinem Leben verändert. Noch vor kurzem, im OP des Santa-Monica-Krankenhauses hätte ich mir nicht vorstellen können, in einem Zug das Niltal hinauf zurattern. Diese beiden Welten waren so weit voneinander entfernt, als ob sie sich auf verschiedenen Planeten befinden würden.
»Ich bin nervös. Arnold Rossiter wird sich gewiß auch in Luxor herumtreiben. Sagen Sie mir eines, Mr. Raschid. Warum waren diese Verbrecher sowohl hinter meinem Schakal als auch hinter mir her? Ich meine, warum haben die mein Zimmer danach durchsucht?«
»Sie müssen gedacht haben, er gäbe ihnen einen Hinweis auf die genaue Lage des Grabes. Bestimmte klimatische Verhältnisse können auf antiken Gegenständen ihre Spuren hinterlassen und etwas über die Lage der Grabstätte verraten. Oder möglicherweise könnten sie durch die Art der künstlerischen Bearbeitung des Schakals auf die Dynastie schließen, was ihnen auch einen Anhaltspunkt geben würde. Die verschiedenen Dynastien bestatteten ihre Toten in unterschiedlichen Regionen. Diese Räuber, Miss Harris, suchen nach dem Grab, nicht nach Ihnen oder Ihrer Schwester. Sie folgen Ihnen nur, um Ihre Schwester zu finden, die sie dann, wie sie hoffen, zum Grab führen wird.«
»Ebenso wie Sie.«
»Ja.«
»Und wenn das Grab erst einmal gefunden ist?«
»Dann hätten sie keine weitere Verwendung mehr für Sie.«
»Aber ich könnte den Behörden Mitteilung machen.«
»Nur, wenn Sie noch am Leben wären.«
Seine Worte stellten keine Überraschung dar. Zu diesem Schluß war ich bereits selbst gelangt. Wenn Arnold Rossiter das Grab ohne mich fände, dann könnte ich bequem »aus dem Weg geschafft« werden, um mich daran zu hindern, die Behörden zu verständigen. »Warum hat er John Treadwell umgebracht?«
Achmed Raschid zuckte die Schultern. Das war es, was mich am meisten störte, die geringe Zahl konkreter Informationen. Wir würden das schnell ändern müssen.
Ich saß nahe an meinem Abteilfenster, als wir uns dem Bahnhof von Luxor näherten. Achmed Raschid befand sich in seinem eigenen Abteil und machte sich zum Aussteigen bereit, so daß ich die letzten paar Minuten in tiefem Nachdenken zubrachte. Ich glaubte alles, was er mir erzählt hatte, auch die phantastischsten Tatsachen. Plötzlich hatte ich volles Vertrauen zu ihm und verließ mich sogar darauf, daß er mich rettete. Er mußte Adele finden und uns vor Rossiter bewahren. Schließlich war das ja auch sein Beruf.
Der Zug verlangsamte sein Tempo. Auf einem zerbrochenen Schild stand das Wort »Kus« in lateinischen und arabischen Buchstaben. Von meinem Fenster hatte ich nun keinen Ausblick mehr auf den Lehmziegelbau des Bahnhofs, sondern nur noch auf die trockene Wüste und die ausgedörrte Landschaft. Wir befanden uns auf dem rechten Ufer, auf der Ostseite des Nils, nachdem wir den Fluß bei Dendera überquert hatten. Luxor liegt am Ostufer des Nils, und die Stadt war nur noch wenige Minuten von uns entfernt. Auf dieser Seite des Abteils sah ich nur eine ockerfarbene Wüste, die sich endlos ausdehnte. Auf der anderen Seite, das wußte ich, lagen die grünen Felder und üppigen Gärten. Aber hier war die ägyptische Wüste, die von Skorpionen, Kobras, Geiern und wilden Schakalen bevölkert wurde. Hin und wieder sproß aus dem harten Sand ein vertrocknetes Grasbüschel hervor. Ein paar Kakteen hielten der starken Hitze und Trockenheit stand. Nur wenige Meter von dem nun langsam fahrenden Zug entfernt sah ich jetzt die ausgebleichten Skelette von großen Tieren. Sie waren alle vollständig erhalten und lagen auf der Seite, und ihre mächtigen Brustkörbe wirkten wie weiße, schmiedeeiserne Zäune. Ich richtete mich auf, als ich erkannte, was diese Dinger waren. Dann erblickte ich eine ausgemergelte Kuh, die zwischen den Knochen ihrer toten Artgenossen stand und langsam den Schwanz hin und her bewegte. Sie ließ den Kopf weit nach unten hängen und atmete mühsam. Nicht weit von ihr lag der Kadaver eines kürzlich verendeten Bullen auf der Seite und mit zwei in die Luft ragenden Beinen. Ihnen gegenüber sah ich den halbverwesten Leichnam einer anderen Kuh, die wohl schon einige Tage tot war und von Fliegen wimmelte. Immer mehr Tierkadaver wurden zwischen den gebleichten Gerippen sichtbar, manche stärker verwest als andere. Manche waren nur leicht zersetzt, andere kaum erkennbar. Dann, weiter weg, von der Seite her, kam ein anderes dürres Rind langsam herbeigewankt und blieb stehen, als die Kräfte es verließen.
Jetzt saß ich kerzengerade da und spürte einen Ruck, als der Zug seine Geschwindigkeit wieder erhöhte. Wie gebannt hielt ich die Augen auf diesen Viehfriedhof geheftet und wandte unwillkürlich den Kopf, als der Zug immer schneller fuhr. Ich schaute, bis wir uns vollends entfernt hatten und die Stelle nicht mehr zu sehen war. Dann lehnte ich mich in meinem Sitz zurück und starrte verwirrt vor mich hin. In der Umgebung des kleinen Dorfes Kus in Oberägypten befand sich ein Friedhof, zu dem das Vieh wanderte, wenn es den Tod herannahen fühlte.
Achmed Raschid muß schon eine Zeitlang in meiner Tür gestanden haben, bevor ich ihn bemerkte. Und als ich es schließlich tat, muß ich so etwas gesagt haben wie: »Ich kann nicht glauben, was ich sehe«, denn er antwortete mit einem geheimnisvollen Lächeln und den Worten: »Sie haben noch nicht das Tal der Könige gesehen.«
Das New Winter Palace war ein modernes Hotel, wie man es auch in den Vereinigten Staaten finden kann, mit dem einzigen Unterschied, daß der Blick, der sich einem vom Balkon seines Zimmers aus bot, mit keinem auf der Welt vergleichbar war. Wir hatten Glück gehabt, bei unserer Ankunft gleich zwei vorbereitete Zimmer zu finden, obwohl ich insgeheim glaubte, daß Mr. Raschids Einfluß dabei eine entscheidende Rolle gespielt hatte. Ich ließ meinen Paß am Empfang und fuhr mit ihm und einem in eine leuchtend rote Uniform gekleideten Portier im Aufzug nach oben. Der Portier lachte und bewegte den Kopf auf und ab und sagte: »Henry Kissinger.« Es hatte sich zum Glück so gefügt, daß wir zwei nebeneinander liegende Zimmer bekamen, so daß Achmed Raschid wieder nur ein Klopfzeichen weit von mir entfernt war. Das Zimmer gefiel mir auf Anhieb: Es war hell und luftig und besaß eine topmoderne Sanitärausstattung. Das Bad war neu und sauber mit frischen Handtüchern, die die Aufschrift »Upper Egypt Hotels Co.« trugen. Und erst die Aussicht! Die Aussicht! Sie verschlug mir den Atem! Aus der Höhe überblickten wir den graublauen Nil und konnten auf unserer Rechten den gut erhaltenen Tempel von Luxor sehen. Auf der linken Seite stand das braune Winter Palace, früher das Hotel, in dem man wohnte, wenn man Luxor besuchte, heute nur noch die Herberge, die man aufsuchte, wenn das New Winter belegt war. Die Stadt Luxor selbst erstreckte sich hinter uns zur Wüste hin und einige Kilometer nilauf- und nilabwärts. Sie ging jedoch nicht über den Fluß hinweg wie manche anderen Städte, denn an dieser Stelle führt keine Brücke über den Nil, ganz so wie zu Zeiten der alten Ägypter, die ebenfalls hier, auf dieser Seite, lebten und die andere Seite den Toten vorbehielten. Dort drüben, auf dem Westufer, befanden sich einige der grandiosesten Monumente der Welt. Ich stand mit Achmed Raschid auf diesem Balkon wie jemand, der gerade aus einem langen, tiefen Schlaf gerüttelt worden ist. Ich konnte lange nicht sprechen. Statt dessen verweilte mein Blick auf den grünen Palmen und den üppigen Flußufern, und ich horchte auf das Getrappel der Pferdekutschen, die unten vorbeifuhren. Vom Verkehr wurden wir hier kaum gestört. Alle Leute waren entweder Fußgänger oder bewegten sich auf Pferd oder Esel fort. Direkt unter uns befand sich der herrlich angelegte hoteleigene Garten, dann kam die gepflasterte Straße und schließlich der Nil. Auf dem Fluß trieben die allgegenwärtigen Feluken, deren dreieckige Segel sich in der Morgensonne abzeichneten. Ein großes Flußschiff lag vertäut am Ufer, eines von denen, die Touristen mit Zeit und Geld auf gemütlichen Vierzehntages-Kreuzfahrten von Kairo nach Assuan befördern. Zwei geräumige Fähren waren aneinander festgemacht und warteten auf Besucher des Tals der Könige.