Ich starrte auf die uns umgebende Wüste hinaus - schon lange hatten wir die Bauernsiedlungen hinter uns gelassen -und versuchte mir alle Könige und Königinnen vorzustellen, die noch unter dem Sand schlummerten. Dann riß ich die Augen auf. »Mein Schakal!«
»Ja?«
»Mein kleiner Schakal stammt wahrscheinlich aus einem solchen Grab. Das muß es sein, was Adele am Telefon damit meinte, daß er >alles erklären< würde.«
»Jetzt begreifst du die Bedeutung von alledem. Die Geheimhaltungspflicht. Die Notwendigkeit, die Wahrheit zu erfahren.«
»Allmächtiger.« Ich nahm meine Handtasche und drückte sie an meine Brust. Der Schakal war da drinnen. Ein kleines Stück Elfenbein, das vielleicht der erste Schatz aus einem neuentdeckten Grab war - ein Grab, von dem niemand wußte, daß es existierte, eines, das noch alle Besitztümer des Pharaos enthielt.
»Wenn es tatsächlich so ein Grab gibt, Lydia, dann werden wir an der aufsehenerregendsten Entdeckung seit Tutenchamun mitwirken! Seiten über Seiten ägyptischer Geschichte werden ergänzt werden.
Journalisten aus aller Welt werden kommen und über unsere Geschichte schreiben. Tausende von Besuchern werden Tag für Tag eintreffen, genauso wie damals. Die Touristen werden ihr Geld bringen und damit meinem Land helfen. Ich kann die Bedeutung der Sache, in die wir wahrscheinlich verwickelt sind, gar nicht genug betonen. Und deshalb, Lydia, dürfen wir einen Mann wie Arnold Rossiter nicht vor uns zu dem Grab gelangen lassen.«
Als er das sagte, lehnte ich meine Stirn gegen das Fenster und schloß die Augen. Wie kann das nur sein? schrie es aus meiner Seele. Wie können seine Worte so aufrichtig, so hingebungsvoll klingen, wo er doch gemeinsame Sache mit Schweitzer und Rossiter macht, denselben Männern, die er so überzeugend verurteilte? Mein Herz klopfte zum Zerspringen, als wir uns dem Tal näherten und ich vor uns in einer Felsnische eine Ansammlung von weißen Zelten erblickte.
»Wo sind die Gräber?« fragte ich und sah mich aufgeregt um. »Sie liegen noch weiter die Straße hinunter. Ein Zaun und ein Tor markieren den Eingang zur Gräberstätte. Man hat sie errichtet, um die Gräber zu schützen. Dr. Jelks’ Camp ist dort drüben, du kannst es sehen.«
»Ist er der einzige Archäologe hier?«
»Im Tal der Könige, ja. Es gibt noch ein französisches Team in der Nähe von Der el-Bahri, und einige Amerikaner arbeiten an der Restaurierung eines Grabes im Tal der Königinnen.« Ich rückte weiter vor und hielt mich an der Lehne des Vordersitzes fest. Als wir uns dem Camp in einer Staubwolke näherten, spähte ich aufgeregt nach allen Seiten, ob ich die vertraute Gestalt von Adele irgendwo entdeckte. Ich war von so weit hergekommen, von so weit her.
Ich sprang heraus, noch bevor die Räder des Taxis zum Stillstand gekommen waren, und Achmed Raschid kam mir sofort nach. Unser Motorengeräusch hatte die Aufmerksamkeit der Camp-Bewohner erregt, so daß wir von einem kleinen Begrüßungstrupp empfangen wurden. Es waren alles Männer. »Hallo!« rief der größte von ihnen. »Was können wir für Sie tun?«
»Ist Dr. Jelks hier?«
»Im Augenblick nicht. Ich bin sein Assistent, Dr. Wilbur Arnes. Kann ich Ihnen weiterhelfen?«
»Mein Name ist Achmed Raschid. Ich arbeite für die Behörde für Altertümer.« Der Gesichtsausdruck des Mannes blieb unverändert. »Wann erwarten Sie Dr. Jelks zurück?«
»In Kürze. Er wird bald Mittagspause machen. Seit Tagesanbruch arbeitet er im Grabtempel von Sethos. Kommen Sie doch auf einen Tee herein, ja?«
Dr. Arnes machte kehrt, und wir folgten ihm und den anderen ins Lager. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich rechnete jeden Moment damit, Adeles Stimme »Lyddie! Lyddie!« zu hören. Aber kein Ruf ertönte, als wir zwischen Landrovern und Zelten hindurch in das größte geführt wurden, das als Speisezelt diente. Klapptische und Bänke nahmen die eine Seite ein, während sich auf der anderen eine ausgeklügelte Kocheinrichtung befand. Unsere Gastgeber setzten sich auf die eine Seite des Tisches, wir nahmen ihnen gegenüber Platz. Ein junges Mädchen, nicht älter als sechzehn, mit dünnem, blondem Haar, schickte sich an, uns Tee einzuschenken. »Meine Tochter«, stellte Dr. Arnes sie mit einem neugierigen Blick auf mich vor. »Rosalie möchte Ägyptologin werden wie ihr verrückter alter Papa. Nun sagen Sie mir doch, Mr. Raschid, welchem Umstand verdanken wir diesen überraschenden Besuch?«
»Ich warte damit lieber, bis Dr. Jelks zurückkommt. Aber Sie können mir vielleicht sagen, ob Miss Harris hier ist.«
»Adele?«
Er kannte sie also! Mein Herz fing an, wild zu schlagen. »Es ist komisch, daß Sie mich das fragen. Wir haben uns selbst schon überlegt, wohin sie gegangen sein könnte. Seit gestern abend ist sie nicht mehr im Camp gewesen.«
»O nein!« stöhnte ich und faßte nach Achmeds Hand. »Das kann doch wohl nicht wahr sein!«
Dr. Arnes sah mich verblüfft an, worauf Achmed ihn aufklärte: »Dies ist Adeles Schwester Lydia, und sie ist den ganzen Weg von Los Angeles hierher gekommen, um sie wiederzusehen.«
»Schön, Sie kennenzulernen! Ja, irgendwie kamen Sie mir gleich bekannt vor. Sie sehen Ihrer Schwester wirklich sehr ähnlich. Adele ist jetzt schon seit ein paar Wochen bei uns, ein ganz reizendes Mädchen und eine wunderbare Gefährtin für Rosalie.«
»Aber wenn sie nicht hier ist, wo ist sie dann?«
»Wir wissen es nicht. Bis gestern abend war sie noch bei uns und nahm dann einen der Landrover, um nach Luxor zu fahren. Das sagte sie wenigstens. Sie ist noch nicht zurückgekommen.«
»Haben Sie nicht nach ihr gesucht?« Ich fühlte mich ganz elend. »Nein. Adele ist oft nach Luxor gefahren, um die Nacht in einem Hotel zu verbringen. Sie findet unsere Unterkünfte zu primitiv, und hin und wieder verlangt es sie nach einem Bad und einem richtigen Bett, wie sie sich ausdrückt.«
»Wann kommt sie gewöhnlich zurück?« erkundigte sich Achmed, während er mit beiden Händen meine Hand hielt. »Das ist das Merkwürdige daran. Normalerweise bei Sonnenaufgang, so daß sie Dr. Jelks bei der Arbeit helfen kann. Tüchtige kleine Assistentin, Ihre Schwester.«
»Nun, jetzt ist es schon fast elf!« rief ich aus.
»Ja, aber sie könnte auch noch einkaufen gegangen sein.« Ich drehte mich zu Achmed um. »Etwas Schreckliches ist passiert. Das habe ich im Gefühl!«
»Sagen Sie mal, worum geht es hier denn eigentlich?« Wilbur Arnes verhielt sich bemerkenswert ruhig, wenn man bedachte, daß er die Entdeckung eines Grabes geheimhielt und mit Schmugglern Geschäfte machte. Das heißt, falls ein solches Grab überhaupt existierte und falls Rossiter der war, für den Achmed ihn ausgab.
Ich zog meine Hand zurück und beobachtete Achmed aus dem Augenwinkel. Schweitzer war am Abend zuvor in Luxor gewesen, und Adele war am Abend zuvor verschwunden, und ich hatte in der Nacht zuvor Achmed mit Schweitzer gesehen. Was für ein Zufall! In dem Zelt war es einigermaßen kühl und ziemlich dunkel. Das Innere wurde nur von einigen schwachen Glühbirnen erhellt. Ich ließ meinen Tee unberührt und saß da und beobachtete. Achmed erklärte nur kurz, daß ein Brief von Adele mich dazu veranlaßt hatte, nach Luxor zu kommen.
»Sie wird irgendwann im Laufe des Tages auftauchen, Miss Harris. Da bin ich ganz sicher. Und sie wird sich unheimlich freuen, Sie hier zu haben. Soviel sie auch für Paul empfindet, Camping ist nicht gerade die Stärke Ihrer Schwester.«
»Für Paul empfindet? Was meinen Sie damit?«
»Oh, das wußten Sie nicht? Ich dachte, sie hätte es vielleicht in ihrem Brief erwähnt. Ihre Schwester hat ein Verhältnis mit Dr. Jelks.«
Mein Blick huschte unwillkürlich zu Achmed hinüber. »Genaugenommen sind sie bereits verlobt.«
So, das war es also. Adele war noch tiefer in das hier verwickelt, als ich angenommen hatte. Dieser betrügerische Ägyptologe, Paul Jelks, bediente sich meiner unschuldigen Schwester, um seine gestohlenen Schätze an einen Hehler zu verkaufen. Auch Wilbur Arnes erschien mir in keinem allzu günstigen Licht. Es würde schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, Adele von alledem wegzubekommen. Ich bezweifelte sogar, daß sie sich von mir überzeugen ließ, wenn ich ihr über Rossiter berichtet hätte.