»Was.«
»Du hast dich mit deiner Theorie über seine Identität geirrt, Lydia, und ich habe erst gestern nacht herausgefunden, wer er wirklich ist. Ich habe im Hotel bemerkt, daß er dich beobachten wollte und wie er um dein Zimmer herumschlich. Da habe ich ihn auf dem Hotelflur zur Rede gestellt, und nach einigen Mißverständnissen hat er mir seine Geschichte erzählt. Er suchte gar nicht nach Paul Jelks, sondern nach Rossiter.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Karl Schweitzer arbeitet für das Museum von Berlin und war im Zusammenhang mit einigen gestohlenen Kunstgegenständen schon seit vielen Monaten hinter Rossiter her. Er hatte angenommen, daß du für Rossiter arbeitest, weil du mit John Treadwell gereist bist, der ja zu Rossiters Leuten gehörte.«
»Das ist ja aberwitzig! Hoffentlich bekomme ich jetzt keinen Ärger, weil ich ihn verletzt habe.«
Achmed grinste. »Interessanterweise war Schweitzer genauso überrascht, dich in Khouris Laden anzutreffen, wie du es warst, ihn zu sehen. Er war gerade dabei gewesen, den Mann über den Aufenthaltsort von Rossiter auszufragen, als du mit einem Mal aufgetaucht bist, was ihn ziemlich überrascht hat. Da er annahm, daß du für Rossiter arbeitest, fragte er sich, warum du in den Geschäften herumgingst und den Schakal herumgezeigt hast? Für ihn ergab das keinen Sinn, aber er wollte dich trotzdem festhalten.«
»Aber er hat doch John Treadwell auf dem Gewissen.«
»Nein, wie es aussieht, geht dieser Mord auch auf Rossiters Konto. Karl Schweitzer hat damit nichts zu tun und hörte erst später von dem Mord.«
»Ich muß Rossiter um Sekunden verpaßt haben.«
»Und im Domus Aurea verfolgte er dich, ja, aber er war nicht derjenige, der dich niederschlug. Das ist einer von Rossiters Handlangern gewesen.«
»Ich kann es einfach nicht glauben.«
»Ich kann dir versichern, daß alles der Wahrheit entspricht. Als ich Karl Schweitzer letzte Nacht ausfragte, zeigte er mir.«
»Letzte Nacht! Achmed, warum hast du mir nichts davon gesagt?«
»Du hast mich nicht danach gefragt.«
Ich starrte ihn verwundert an. Dann ließ ich mich in einem plötzlichen Anfall von Müdigkeit in die Sicherheit seiner Arme zurücksinken. Ich ließ mich von dem Motorengeräusch einlullen. Mein Kopf fiel auf Achmeds Schulter herab, und für einen Augenblick nur schloß ich die Augen. Als er mich im nächsten Moment am Kinn faßte und mich küßte, schien mir das ganz normal und natürlich. Und als ich die Arme um seinen Hals schlang und seinen Kuß erwiderte, vergaß ich alle anderen, die mit uns im Auto saßen. Er hielt mich fest an sich gedrückt, als wollte er mich niemals mehr loslassen, und als ich mein Gesicht an seinem Hals vergrub und spürte, wie der Landrover seine Fahrt verlangsamte, erinnerte ich mich an die Eingebung, die ich in den letzten Sekunden vor meiner Rettung gehabt hatte. Und an den Entschluß, den ich gefaßt hatte.
Dann hob ich den Kopf und schaute aus dem Fenster. Durch die Wolken des sich legenden Staubs erblickte ich Paul Jelks’ Camp und konnte die Umrisse von mehreren Leuten ausmachen. Die meisten von ihnen trugen Uniformen.
Achmed half mir aus dem Landrover. Ich sprang hinunter in den Sand und blieb wie angewurzelt stehen, als ich die Männer sah, die nur ein paar Schritte von mir entfernt standen.
Der eine war Rossiter (der sich nur geringfügig von dem amerikanischen Touristen im Muski unterschied), der andere war Karl Schweitzer. Als ich seine verbundene Schulter und die Schlinge sah, die seinen Arm stützte, hatte ich plötzlich wahnsinnige Lust, laut herauszulachen.
Achmed und ich traten zu ihnen hin. Er murmelte einem der Polizisten etwas zu, worauf dieser nickte. Wir standen in den langen, nachmittäglichen Schatten; unsere Münder und Kehlen waren ausgetrocknet und unsere Kleider voller Sand. Und ich ertappte mich dabei, wie ich überlegte: Was kann man in einem Augenblick wie diesem sagen?
Es wurde mir keine Gelegenheit gegeben, weiter darüber nachzudenken, denn gleich darauf hörte ich einen anderen Wagen über den Sand knirschen und fuhr herum. Es war ein Landrover, in dem vier Leute saßen.
Da mir plötzlich zum Bewußtsein kam, um wen es sich dabei handeln könnte, wurde ich aufgeregt. Beide Türen sprangen auf. Auf der Beifahrerseite stiegen zwei uniformierte Männer und eine junge Frau in Khaki-Hosen aus. Mit einem einzigen Blick überflog sie alle Gesichter, erkannte mich, rief plötzlich aus: »Lyddie!« und rannte auf mich zu.
Meine Schwester und ich fielen uns um den Hals und hielten uns eng umschlungen, während wir unverständliche Worte stammelten und unseren Tränen freien Lauf ließen. Dann trat Adele zurück, während sie meine Arme noch immer umklammert hielt, und musterte mich. Sie strahlte über das ganze Gesicht.
»O Lyddie, Lyddie«, sagte sie immer und immer wieder kopfschüttelnd. »Wer hätte das gedacht? Hier draußen, mitten in der Wüste? Mein Gott!«
Ich lächelte zurück und blinzelte die Tränen aus meinen Augen. Die gefühlsmäßige Erschütterung darüber, meine Schwester endlich nach all diesen Jahren wiederzusehen, begann jedoch rasch abzuklingen, als ich sie eingehender betrachtete. In den ersten Augenblicken der Wiedersehensfreude hatte ich gar nicht bemerkt, wie sehr sie sich verändert hatte. Doch als ich jetzt im düsteren Schein der untergehenden Wüstensonne neben ihr stand, sah ich mit Bestürzung, daß meine Schwester in diesen vier Jahren seit unserer letzten Zusammenkunft eine ganz andere geworden war. Auf ihrem Gesicht und um ihren Mund herum hatten sich Falten eingegraben; unter ihren Augen zeigten sich dunkle
Schatten. Ihre Wangen waren hohl; ihr Haar hatte sie streng zurückgekämmt und zu einem schlichten Knoten gebunden. Nein, es konnten nicht allein die Jahre gewesen sein, die Adele so verändert hatten. Denn außer den Folgen des Alterns zeigte sich noch etwas anderes in ihrem Gesicht; da war ein harter Zug, ein Anflug von Grausamkeit um Augen und Mund herum. Während ich sie mit einem erstarrten Lächeln noch immer unverwandt anschaute, warf Adele den Kopf zurück und sah sich unter den Anwesenden um. Dann bemerkte ich, wie ihr Blick an jemandem haftenblieb, der hinter mir stand, und ich hörte meine Schwester mit ausdrucksloser Stimme sagen: »Hallo, Arnold!« Gerade sprach Achmed mit dem Polizisten, der Adeles Landrover gefahren hatte. Die beiden Männer wechselten ein paar kurze Worte, worauf Achmed sich zu mir umdrehte und erklärte: »Sie haben deine Schwester am Flughafen von Luxor aufgegriffen. Sie war eben dabei abzufliegen.«
»Abzufliegen!« wiederholte ich bestürzt.
Adele bedachte Achmed mit einem schiefen Lächeln. »Ich habe bemerkt, wie diese beiden Agenten von Ihnen mich vor ein paar Tagen fotografierten. Ich wußte, daß es nur eine Frage der Zeit wäre, bis Sie und die Polizei mich einholen würden. Ich bin gestern abend unter dem üblichen Vorwand, daß ich die Nacht im Hotel verbringen wolle, nach Luxor gefahren, und während ich dort war, habe ich mich ein wenig umgesehen. Als ich dann den fetten Kerl sah«, sie machte eine Kopfbewegung in Schweitzers Richtung, »da merkte ich, daß es an der Zeit war.«
»Wo wolltest du denn hin?« fragte ich völlig verwirrt. »Irgendwohin, liebe Schwester, nur weit weg von diesem gottverlassenen Land.«
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Wie konnte das meine Schwester Adele sein? Wie konnte sie sich so verändert haben? Und warum?
Achmeds Stimme klang ruhig und sachlich. »Erläutern Sie uns bitte, warum Sie Luxor verlassen wollten.«
Adele sah von ihm zu mir, dann zu Paul Jelks, zu Schweitzer und zuletzt zu Rossiter. Ihre Augen bewegten sich flink und aufgeregt, berechnend. Um uns her wehte ein leichter Wind, der uns feine Schwaden von trockenem Sand ins Gesicht blies. Der Wind klang einsam und hohl, als er so über die endlose Wüste fegte, wie er es schon seit Jahrhunderten tat.