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Aber ich war mir meiner Sache sicher. »Nein, Dr. Kellerman, Sie irren sich. Meine Schwester ist in irgendeine mysteriöse Geschichte verwickelt, und ich denke, sie will, daß ich ihr da heraushelfe. Je mehr ich über unser Gespräch nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt. Sie fürchtete sich vor irgend etwas. Vielleicht ist sie deshalb so überstürzt aus dem Hotel abgereist und konnte keine Nachricht mehr hinterlassen. Vielleicht hat es mit diesem Schakal mehr auf sich« - ich klopfte auf meine Handtasche, worin er lag -, »als man beim ersten Hinsehen annehmen möchte. Alles in allem sind Sie doch nur ein Chirurg, Dr. Kellerman. Was wissen Sie schon von solchen Dingen?« neckte ich ihn.

Da gab er mir zum zweiten Mal innerhalb von drei Jahren einen Kuß. »Cathcart ist nicht gerade erfreut. Sie weiß genau, daß niemand sonst einem alten Krokodil wie mir assistieren kann. Sie haben nie gesehen, wie ich einen Wundhaken durch den Raum werfe.«

»Ich werde zurück sein, bevor Sie meine Abwesenheit überhaupt bemerken.«

»Und wer sonst reicht mir das Nahtmaterial in so hübschen, wirren Knäueln wie Sie? Oh, Lydia.« Dr. Kellerman schüttelte resigniert den Kopf.

Auf seinen Vorschlag hin tauschte ich etwas Geld in Lire um, kaufte ein Kreuzworträtselheft und begab mich frühzeitig an Bord der Maschine. Zu meiner Überraschung verhielten wir uns beim letzten Abschiedsgruß beide etwas gezwungen.

Sobald ich an Bord der Boeing 747 war und mich auf meinem Fensterplatz eingerichtet hatte, bestellte ich noch vor dem Start eine Bloody Mary mit reichlich Tequila und wenig Tomatensaft. Erleichtert stellte ich fest, daß der Platz neben mir leer war und bis New York auch so bleiben würde. Ich brauchte die nächsten paar Stunden dringend zum Nachdenken.

Abermals hatte ich beim Abschied in Dr. Kellermans Augen übersehen, was eine andere, empfindsamere Frau vielleicht wahrgenommen hätte. Daher flog ich von Los Angeles mit der irrigen Vorstellung ab, daß keine Menschenseele den Verlust beklagen würde, sollte mir in Rom ein unvorhergesehenes Unglück zustoßen. Und dann schweiften meine Gedanken aus einem unerfindlichen Grund von Dr. Kellerman zu Jerry Wilder, dem interessanten Anästhesisten, mit dem ich für kurze Zeit ausgegangen war. Merkwürdig, daß ich mich

ausgerechnet jetzt wieder daran erinnerte, nachdem ich seit zwei Jahren keinen Gedanken mehr an dieses kurze Verhältnis verschwendet hatte. Als die Maschine vom Boden abhob und ich den leichten Druck auf meinem Körper spürte, erinnerte ich mich schwach an das letzte Mal, als wir zusammen waren, und an seine harten Worte: »Du bist eine verdammt gute Operationsschwester, Lydia. Wahrscheinlich die beste in unserer ganzen Abteilung. Du bist eine gut funktionierende kleine Maschine im OP und leistest hervorragende Arbeit. Das Problem ist nur, daß du nach Dienstschluß nicht abschalten kannst. Und dort liegt der Haken: Du bist eine

Krankenschwester und keine Frau. Bei dir kommt die Medizin vor allem anderen, und ich glaube eigentlich nicht, daß du irgendein anderes Interesse im Leben hast.«

Ich war bestürzt und verletzt - und doch wußte ich, daß er im Grunde die Wahrheit ausgesprochen hatte. Während der kurzen drei Monate, in denen wir zusammen ausgingen, hatte ich nicht einmal in wirklicher Liebe an Jerry gedacht, noch hatte ich mich ihm je völlig hingegeben. Vielleicht konnte ich nicht - oder wollte ich nicht. Aus welchem Grund auch immer, unsere Beziehung beschränkte sich danach wieder auf das rein Berufliche.

Die 747 setzte die Geschwindigkeit herab und ging in ein sanftes Brummen über. Der Druck verminderte sich, und meine Ohren gingen wieder auf. Ich war bei meiner zweiten Bloody Mary angelangt und hörte dazu über Kopfhörer klassische Musik, als ich mir plötzlich über meine Situation in erschreckender Weise klar wurde. Da flog ich nun zum ersten Mal in meinem Leben an Bord einer Boeing 747 in ein fremdes Land, um nach einer Schwester zu suchen, die ich dort vielleicht gar nicht mehr antreffen würde. Was mich jetzt außerdem in Erstaunen versetzte, war die unleugbare Tatsache, daß ich zum ersten Mal in meinem wohl organisierten Leben kaum einen Gedanken an meinen Beruf verschwendet hatte und alles für eine andere Sache hatte stehen- und liegengelassen, die sich als lächerliche Spinnerei erweisen konnte.

Doch obwohl ich meine Torheit erkannte, schritt ich mit unverminderter Entschlossenheit weiter voran, wobei ich nicht einmal wußte, was ich letztendlich eigentlich herauszufinden hoffte.

Bei der Atlantiküberquerung, nach dem Zwischenstopp in New York, hatte ich eine Sitznachbarin, aber glücklicherweise war sie eine stille Nonne, die die meiste Zeit schlief oder in ein Buch vertieft war. Die Flugdauer von New York nach Rom war auf sieben Stunden angesetzt, und wir Passagiere aus Los Angeles hatten bereits drei weitere Stunden hinter uns. War Rom bisher kaum mehr als ein Name und eine damit verbundene vage Vorstellung gewesen, so wurde daraus nun in raschem Tempo Wirklichkeit.

Ich versuchte, mich für ein Nickerchen bequem zurechtzusetzen, denn ich hatte die letzten beiden Nächte schlecht geschlafen. Adeles Anruf hatte eine unheimliche Wirkung auf mich gehabt. Er hatte eine Lawine von Erinnerungen in mir ausgelöst, die ich über mehrere Jahre hatte verdrängen können und die schließlich vergessen zu haben ich nur allzu froh gewesen war. Doch ihre Stimme hatte eine Tür aufgestoßen, und als diese Tür erst einmal geöffnet war, konnte sie nicht wieder geschlossen werden. Die Vergangenheit ließ sich nicht noch einmal wegsperren. Unsere Kindheit, unsere Jugend, der Tod unserer Eltern, unser anschließendes Auseinanderleben und unser endgültiger Abschied vor vier Jahren, alles stürmte wieder auf mich ein, als hätten Adele und ich uns erst gestern voneinander getrennt. Am Telefon hatte sie mich Lyddie genannt.

Ich kniff die Augen fest zusammen, aber man kann sich schmerzlichen Erinnerungen nicht dadurch entziehen, daß man den Kopf in den Sand steckt. Ihr Gesicht erschien vor meinem geistigen Auge, zurechtgemacht mit aufwendigem Make-up, die Frisur nach der neuesten Mode. Mit ihrem hinreißenden Lächeln machte sie sich über mich lustig, foppte mich wegen meiner strengen Pflichtauffassung und versuchte mich zu ihrem lockeren Lebensstil zu bekehren. Diese meine zigeunerhafte Schwester war so ganz anders als ich, mit ihrem ausgeprägten Gespür für Lebensart und Sich-in-Szene-Setzen, das sie auf Partys stets zum Liebling machte.

Mir war nie bewußt geworden, wie oft ich mich in meinem Leben schon »für immer« von Menschen, die mir nahegestanden hatten, verabschiedet habe. So durchlebte ich in Gedanken noch einmal die letzte Begegnung mit Adele. Ich erinnerte mich an jedes Wort, an jede Geste.

»Ehrlich, Lyddie, es ist höchste Zeit, daß ich gehe. Ich weiß, daß du mich nicht ernsthaft in dein Leben integrieren willst. Dein >Privatleben< hat dir ja schon immer viel bedeutet. Deshalb ziehe ich eben fort. Und außerdem glaube ich nicht, daß Amerika groß genug für mich ist. Ich will etwas von der Welt sehen. Es gibt so viel zu tun, bevor ich dreißig bin.«

»Um Himmels willen, Adele, du bist doch erst zweiundzwanzig.«

»Acht Jahre sind keine lange Zeit. Oh, du hast dein ganzes Leben hübsch geplant, Lyddie, und alles ist bei dir ordentlich aufgeräumt an seinem Platz. Ich bin sicher, es wird alles so klappen, wie du es planst. Ich dagegen.« - sie hatte dramatisch geseufzt -, ». ich weiß nie, was der nächste Tag bringen wird. Es gibt für mich noch so viel zu erleben, bevor ich dreißig bin.«

»Was ist an dreißig so besonders?«

»Ach, Lyddie, wenn man erst dreißig ist, ist man alt, und ich will nicht alt sein.«

»Adele.« Ich hatte nur resigniert den Kopf über sie geschüttelt. Wie haltlos sie seit dem Tod unserer Eltern doch geworden war, wie grundlegend sie sich doch verändert hatte! »Es wäre wirklich an der Zeit, daß du über einen Beruf nachdenkst.«

»Ich habe doch schon einen!«

»Einen reichen Mann zu heiraten kann man wohl kaum.«