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»Ja. In Blut geboren.«

Der Morgen und der Abend

Ich kam zu der kleinen Anhöhe, von der aus man die Condon-Ranch überblickte, und parkte so, dass der Wagen vom Haus aus nicht zu sehen war. Als ich die Scheinwerfer ausschaltete, konnte ich am östlichen Himmelsrand das erste Leuchten der aufgehenden Sonne sehen, das die neuen Sterne bereits auszulöschen begann.

Das war der Moment, in dem ich zu zittern begann.

Ich kam nicht dagegen an. Ich machte die Tür auf und fiel aus dem Auto, rappelte mich wieder hoch. Die Landschaft schälte sich aus der Dunkelheit wie ein verlorener Kontinent: braune Hügel, vernachlässigtes Weideland, das sich in Wüste zurückverwandelt hatte, der lange flache Abhang, der zum Farmhaus führte. Mesquit- und Kerzensträucher zitterten im Wind. Ich zitterte ebenfalls. Es war Furcht — nicht das etwas verkniffene Unbehagen, mit dem wir alle seit Beginn des Spins lebten, sondern eine Panik, die von den Eingeweiden ausging, sich wie eine Erkrankung der Muskeln und des Darmtrakts anfühlte. Tag der Vollstreckung für den zum Tode Verurteilten. Schinderkarren und Galgen nahten von Osten her.

Ich fragte mich, ob Diane eine ähnliche Angst ergriffen hatte. Und ob ich sie würde trösten können. Ob ich selbst noch etwas aufzubieten hatte, das zum Trost taugte.

Wieder erhob sich Wind, fegte Sand und Staub vom trockenen Grat. Vielleicht war dieser Wind ja der Vorbote der aufgedunsenen Sonne, ein Wind, der von der heißen Seite der Welt kam.

Ich hockte mich irgendwo hin, wo ich nicht gesehen zu werden hoffte, und schaffte es, immer noch zitternd, die Nummer, die Simon mir genannt hatte, in mein Handy zu tippen.

Er nahm nach zwei, drei Klingelzeichen ab. Ich presste das Handy an mein Ohr, um die Windgeräusche zu reduzieren.

»Du solltest das wirklich nicht tun«, sagte er.

»Störe ich die Entrückung?«

»Ich kann nicht reden.«

»Wo ist sie, Simon? Welcher Teil des Hauses?«

»Wo bist du?«

»Gleich hinter dem Hügel.« Der Himmel war jetzt heller, wurde mit jeder Sekunde heller, am westlichen Horizont zeigte er sich schon als angestoßenes Purpurrot. Ich konnte das Farmhaus deutlich sehen. Es hatte sich nicht sehr verändert in den Jahren seit meinem Besuch, nur die Scheune wirkte aufpoliert, war möglicherweise repariert und getüncht worden.

Weitaus beunruhigender fand ich allerdings die Grube, die parallel zur Scheune verlief und von locker aufgehäufter Erde bedeckt war. Eine kürzlich angelegte Abwasserleitung vielleicht. Oder ein Klärbehälter. Oder ein Massengrab.

»Ich gehe jetzt zu ihr«, sagte ich.

»Das ist unmöglich.«

»Ich nehme an, dass sie im Haus ist. Eines der Zimmer im ersten Stock. Richtig?«

»Selbst wenn du sie zu sehen kriegst…«

»Sag ihr, dass ich komme, Simon.«

Unten sah ich jetzt eine Gestalt, die sich zwischen dem Haus und der Scheune bewegte. Simon war es nicht. Auch nicht Aaron Sorley, es sei denn, Bruder Aaron hatte in der Zwischenzeit fünfzig Kilo abgenommen. Vermutlich Pastor Dan Condon. Er trug in jeder Hand einen Eimer Wasser. Er schien in Eile zu sein. Irgendetwas ging in der Scheune vor.

»Du riskierst dein Leben«, sagte Simon.

Ich lachte. Ich konnte nicht anders. Dann sagte ich: »Bist du in der Scheune oder im Haus? Condon ist in der Scheune, stimmt’s? Was ist mit Sorley und McIsaac? Wie komme ich an denen vorbei?«

Ich spürte einen Druck im Nacken, wie von einer warmen Hand. Ich wandte mich um. Es war Sonnenlicht, das den Druck ausübte. Der Rand der Sonne war über den Horizont getreten. Mein Auto, der Zaun, der Fels, die dürren Umrisse der Kerzensträucher, alles warf lange violette Schatten.

»Tyler? Tyler, es gibt keinen Weg vorbei. Du musst…« Doch Simons Stimme ging in einem plötzlichen Rauschen unter. Das Licht der Sonne musste den Aerostaten, der den Anruf übertrug, erreicht und das Signal ausgelöscht haben. Instinktiv drückte ich auf die Wahlwiederholung, aber das Telefon war nicht mehr zu gebrauchen.

Ich kauerte an Ort und Stelle, bis die Sonne zu drei Vierteln aufgegangen war. Die Scheibe war riesig und rötlich orange. Sonnenflecken schwärten auf ihr wie eiternde Wunden. Hin und wieder erhoben sich Staubwolken aus der Wüste ringsum und verdeckten sie vorübergehend.

Dann erhob ich mich. Vielleicht schon tot. Vielleicht tödlich verstrahlt. Die Hitze war zu ertragen, bislang jedenfalls, doch auf zellulärer Ebene mochten üble Dinge vorgehen, vielleicht schossen Röntgenstrahlen durch die Luft wie unsichtbare Gewehrkugeln. Also stand ich auf und spazierte in aller Offenheit, unbewaffnet, über den ausgetretenen Weg auf das Farmhaus zu. Unbewaffnet und unbehelligt, jedenfalls bis ich die Holzveranda erreicht hatte und Bruder Sorley mitsamt seinen hundertdreißig Kilo durch die Fliegentür gestürmt kam und mir mit dem Kolben eines Gewehres seitlich gegen den Kopf schlug.

Bruder Sorley tötete mich nicht, womöglich, weil er nicht mit blutbefleckten Händen zur Entrückung antreten wollte. Stattdessen warf er mich in eines der Zimmer im Obergeschoss und schloss die Tür ab.

Einige Stunden vergingen, bis ich mich aufsetzen konnte, ohne dass mir übel wurde. Als das Schwindelgefühl endlich nachließ, schlurfte ich zum Fenster und ließ die gelbe Papierjalousie hoch. Von hier aus gesehen, stand die Sonne hinter dem Haus, der Hof und die Scheune waren in ein gleißendes Orange getaucht. Die Luft war brutal heiß, aber es brannte nirgendwo. Eine Katze, sichtlich desinteressiert an der Feuersbrunst am Himmel, schlappte stehendes Wasser aus einem schattigen Graben. Vermutlich würde die Katze den Sonnenuntergang noch erleben. Genau wie ich.

Ich versuchte das Fenster hochzuschieben — nicht, dass ich unbedingt von hier hätte nach unten springen können —, doch die Schieber waren abmontiert, die Gegengewichte unbeweglich gemacht worden, der ganze Rahmen schon vor Jahren gewissermaßen festlackiert.

Außer dem Bett befanden sich keine Möbel im Zimmer. Und keine Werkzeuge, nur das nutzlose Handy in meiner Tasche. Die Zimmertür war aus schwerem, solidem Holz, und ich bezweifelte, dass ich die Kraft hatte, sie aufzusprengen. Diane war vielleicht nur wenige Meter entfernt, womöglich trennte uns nur eine einzige Wand. Aber ob es wirklich so war, wusste ich nicht, und es gab keine Möglichkeit, es herauszufinden.

Schon der bloße Versuch, zusammenhängende Gedanken zu fassen, rief einen tiefen, Übelkeit erregenden Schmerz an der Stelle hervor, wo der Gewehrkolben mir den Kopf aufgeschlagen hatte. Ich musste mich wieder hinlegen.

Am Nachmittag legte sich der Wind. Als ich wieder zum Fenster schwankte, konnte ich den Rand der Sonnenscheibe über dem Haus und der Scheune sehen, so groß, dass man den Eindruck hatte, sie würde beständig fallen, und so nah, dass man gerade nach ihr greifen konnte.

Die Temperatur in dem Zimmer war seit dem Morgen stetig gestiegen. Ich hatte keine Mittel, sie zu messen, aber sie musste bei 40°C liegen, mit weiterer Tendenz nach oben. Heiß, doch keine tödliche Hitze, wenigstens nicht unmittelbar tödlich. Gern hätte ich jetzt Jason bei mir gehabt, um mir das erklären zu lassen: die Thermodynamik der globalen Auslöschung. Er hätte mir ein Diagramm aufmalen und zeigen können, wo die Temperaturkurve mit der Letalitätslinie konvergierte.

Hitzeflimmern stieg von der gebackenen Erde auf. Dan Condon lief noch mehrere Male zwischen Haus und Scheune hin und her. In der scharfen Intensität des orangefarbenen Tageslichts war er leicht zu erkennen, er hatte etwas von neunzehntem Jahrhundert an sich mit seinem quadratischen Bart und dem hässlichen, pockennarbigen Gesicht: Lincoln in Jeans, langbeinig, zielstrebig. Er blickte nicht auf, nicht einmal, als ich gegen das Fenster klopfte.

Dann trommelte ich gegen die Zimmerwände, dachte, dass Diane das vielleicht hören würde. Doch ich erhielt keine Reaktion.