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Meine Armbanduhr vermeldete gerade das Ablaufen einer weiteren Stunde, als ich, ziemlich leise, ein Geräusch hörte, das vom Schließen einer Tür herrühren mochte. Dann Schritte auf der Treppe, und gleich darauf sah ich Simon zur Scheune gehen.

Er blickte nicht nach oben. Und er kam auch nicht wieder aus der Scheune heraus. Er war dort mit Sorley und Condon, und wenn er das Telefon nach wie vor bei sich hatte, konnte ihn ein Anruf in Gefahr bringen. Nicht, dass mir Simons Wohlergehen übermäßig am Herzen gelegen hätte.

Wenn er aber das Telefon bei Diane gelassen hatte, dann war jetzt die Gelegenheit da.

Ich tippte die Nummer ein.

»Ja.« Es war Diane, die antwortete. »Ja?« Ihre Stimme war atemlos, schwach.

»Diane. Ich bin’s. Tyler.« Ich hatte Mühe, meinen Puls zu kontrollieren; es war, als hätte sich eine Tür in meiner Brust geöffnet.

»Tyler… Simon sagte, du würdest vielleicht anrufen.«

Ich musste mich anstrengen, sie zu verstehen. Sie sprach vollkommen kraftlos, nur mit Hals und Zunge. Was der Ätiologie von KVES entsprach: Die Krankheit befällt zuerst die Lunge, dann das Herz, eine koordinierte Attacke von beinahe militärischer Effizienz. Vernarbtes, schaumartiges Lungengewebe gibt weniger Sauerstoff an das Blut ab; das Herz, sauerstoffunterversorgt, pumpt das Blut mit weniger Leistung; die KVES-Bakterien machen sich beide Schwächen zunutze, graben sich mit jedem mühsamen Atemzug tiefer in den Körper hinein. »Ich bin nicht weit weg, Diane. Ich bin ganz in der Nähe«

»In der Nähe? Kann ich dich sehen?«

Ich wollte ein Loch in die Wand reißen. »Bald. Das verspreche ich. Wir müssen dich hier wegbringen. Dir Hilfe besorgen. Damit wir dich wieder gesund kriegen.«

Ich lauschte dem Geräusch weiterer quälender Atemzüge und fragte mich schon, ob sie mir noch zuhörte. Dann sagte sie: »Ich dachte, ich hätte die Sonne gesehen…«

»Es ist nicht das Ende der Welt — jedenfalls noch nicht.«

»Nicht?«

»Nein.«

»Simon…«

»Was ist mit ihm?«

»Er wird so enttäuscht sein.«

»Du hast KVES, Diane. So wie die McIsaacs, da bin ich mir ziemlich sicher. Sie waren gut beraten, sich Hilfe zu suchen. Es ist eine heilbare Krankheit.« Ich fügte nicht hinzu: bis zu einem bestimmten Punkt, so lange sie noch nicht bis zum Endstadium fortgeschritten ist. »Aber wir müssen dich hier unbedingt wegbringen.«

»Du hast mir gefehlt.«

»Du hast mir auch gefehlt… Verstehst du, was ich sage, Diane?«

»Ja.«

»Bist du bereit, fortzugehen?«

»Wenn der Zeitpunkt kommt…«

»Der Zeitpunkt ist ziemlich nahe. Ruh dich bis dahin aus. Aber wir werden uns dann vielleicht beeilen müssen. Verstehst du?«

»Simon… enttäuscht.«

»Du ruhst dich aus, und ich…«Ich hatte keine Gelegenheit, den Satz zu beenden. Ein Schlüssel klirrte im Türschloss. Ich klappte das Handy zu, steckte es in die Tasche.

Die Tür ging auf, und Aaron Sorley stand im Rahmen, das Gewehr in der Hand, schwer atmend, als sei er die Treppe hochgelaufen. Seine mächtige Gestalt zeichnete sich im trüben Licht des Flurs ab.

Ich wich zurück, bis meine Schultern gegen die Wand stießen.

»Bei Ihrem Führerschein ist ne Marke, wo steht, dass Sie Arzt sind«, sagte er. »Stimmt das?«

Ich nickte.

»Dann kommen Sie mit.«

Sorley führte mich die Treppe hinunter und aus der Hintertür hinaus in Richtung Scheune. Der Mond, bernsteinfarben gefleckt vom Licht der aufgetriebenen Sonne, narbenübersät und kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte, war über dem östlichen Horizont aufgegangen. Die Nachtluft war berauschend kühl. Ich saugte sie tief ein. Die Erleichterung hielt an, bis Sorley das Scheunentor aufriss und uns roher Tiergestank entgegenschlug, ein Schlachthausgeruch nach Exkrementen und Blut.

»Na los, gehen Sie rein«, sagte er und gab mir mit der freien Hand einen Stoß.

Das Licht kam von einer großen Halogenidbirne, die über einer offenen Viehbox hing. In einem Verschlag irgendwo weiter hinten knatterte ein Benzingenerator, es klang wie das Heulen eines Motorrads in der Ferne.

Dan Condon stand am offenen Ende des Pferchs, die Hände in einen Eimer dampfendes Wasser getaucht. Er blickte auf, als wir eintraten. Er runzelte die Stirn, sein Gesicht eine karge Landschaft unter dem grellen Licht, aber er sah weniger einschüchternd aus, als ich ihn in Erinnerung hatte. Eher kleinlaut, abgezehrt, vielleicht sogar krank, vielleicht im Frühstadium von KVES. »Macht die Tür wieder zu«, sagte er.

Aaron folgte der Aufforderung. Simon stand ein paar Schritte von Condon entfernt, warf mir kurze, nervöse Blicke zu.

»Kommen Sie her«, sagte Condon. »Wir brauchen Ihre Hilfe.«

In dem Pferch, auf einem verdreckten Strohbett, versuchte eine magere Färse ein Kalb zu gebären. Sie lag auf der Seite, ihr knochiger Rumpf ragte aus der Box heraus. Der Schwanz war mit einer Schnur an ihrem Hals festgebunden, um ihn aus dem Weg zu schaffen. Die Fruchtblase drängte aus der Vulva heraus, und das Stroh ringsum war mit blutigem Schleim besprenkelt.

Ich sagte: »Ich bin kein Tierarzt.«

»Das weiß ich.« In Condons Augen war ein Ausdruck mühsam unterdrückter Hysterie, der Blick eines Mannes, der eine Party veranstaltet und feststellen muss, dass alles aus dem Ruder läuft — die Gäste drehen durch, die Nachbarn beschweren sich, und die Flaschen fliegen aus den Fenstern wie Mörsergranaten. »Aber wir brauchen noch jemanden zum Anpacken.«

Alles, was ich über Zuchtvieh und Tiergeburten wusste, hatte ich aus Molly Seagrams Erzählungen über das Leben auf der Farm ihrer Eltern, und keine dieser Geschichten hatte besonders erbaulich geklungen. Immerhin war Condon mit allem ausgerüstet, was meiner Erinnerung nach zur unverzichtbaren Grundausstattung gehörte: heißes Wasser, Desinfektionsmittel, Geburtshilfeketten, eine große Flasche Mineralöl, die bereits von blutigen Fingerabdrücken übersät war.

»Sie ist teils Angler«, sagte Condon, »teils eine Rote Dänische, teils eine Rote Weißrussische, und das ist nur die jüngste Linie. Aber Kreuzungen bergen das Risiko von Dystokie, das hat auch Bruder Geller immer gesagt. ›Dystokie‹ bedeutet schwere Geburt. Kreuzzuchten haben Schwierigkeiten zu kalben. Sie liegt schon fast vier Stunden in den Wehen. Wir müssen den Fötus herausziehen.« Er redete wie abwesend, mit monotoner Stimme, als würde er einen Vortrag vor einer Versammlung von Schwachsinnigen halten. Es schien völlig gleichgültig, wer ich war oder wie ich hierher gekommen war — entscheidend war, dass ich zur Verfügung stand.

»Ich brauche Wasser.«

»Da ist ein Eimer zum Waschen«, sagte ich.

»Nicht zum Waschen. Ich hatte seit gestern Abend nichts mehr zu trinken.«

Condon hielt inne, als müsse er diese Information erst einmal verarbeiten. Dann nickte er. »Simon, kümmere dich darum.«

Simon schien in diesem Trio der Laufbursche zu sein. Er zog den Kopf ein und murmelte: »Ich hol dir was zu trinken, Tyler, klar doch.« Sorley öffnete das Scheunentor, um ihn hinauszulassen.

Condon wandte sich wieder der Viehbox zu, wo die erschöpfte Färse schwer atmend dalag. Er schüttete sich Mineralöl über die Hände und hockte sich hin, um den Geburtskanal zu weiten, wobei sich sein Gesicht in einer Mischung aus Eifer und Widerwillen verzerrte. Kaum hatte er damit begonnen, da erschien das Kalb in einem weiteren Sturzbach aus Blut und Flüssigkeit, doch trotz der heftigen Wehen der Färse brachte es kaum den Kopf heraus. Das Kalb war zu groß. Molly hatte mir von überdimensionierten Kälbern erzählt — nicht so schlimm wie eine Steißgeburt oder eine Hüftverklemmung, aber unangenehm genug.

Es machte die Sache nicht besser, dass die Färse offenkundig krank war. Grünlicher Schleim lief ihr aus dem Mund, und auch wenn die Wehen nachließen, rang sie schwer nach Luft. Ich fragte mich, ob ich Condon darauf ansprechen sollte: Sein göttliches Kalb war offenbar auch schon infiziert.