Dann kümmerte ich mich um Diane. Der Tropf und die Antibiotika schienen ihr etwas Energie eingeflößt zu haben. Sie öffnete die Augen und flüsterte: »Tyler«, nachdem ich ihr ein bisschen Wasser eingeflößt hatte. Sie nahm ein paar Löffel voll Cheerios an, drehte dann aber den Kopf weg. Ihre Wangen waren eingefallen, die Augen teilnahmslos.
»Hab noch ein bisschen Geduld, Diane.« Ich stellte ihren Tropf neu ein, ich half ihr aufzusitzen, die Beine aus dem Auto gestreckt, während sie ein wenig bräunlichen Urin abschlug. Dann wischte ich sie ab und tauschte ihr beschmutztes Höschen gegen einen sauberen Baumwollslip aus meinem Koffer aus.
Nachdem sie versorgt war, stopfte ich eine Decke in die Lücke zwischen Vorder- und Rückbank — ein Schlafplatz für mich, wo ich sie nicht störte. Simon hatte während der ersten Etappe nur kurz geschlafen und musste ähnlich erschöpft sein wie ich — aber er war nicht mit einem Gewehr geschlagen worden. Die Stelle, an der mich Bruder Aaron erwischt hatte, war geschwollen und gab dröhnend Meldung, wenn ich mit den Fingern auch nur in die Nähe geriet.
Simon beobachtete das alles aus einigen Metern Entfernung und machte ein mürrisches, vielleicht auch eifersüchtiges Gesicht. Als ich ihn rief, zögerte er, blickte sehnsuchtsvoll über die Wüste, tief ins Herz des absoluten Nichts. Dann schlich er zum Auto zurück und setzte sich hinter das Lenkrad.
Ich quetschte mich in meine Nische. Diane schien ohne Bewusstsein, doch bevor ich einschlief, fühlte ich, wie sie meine Hand drückte.
Als ich erwachte, war es wieder dunkel, Simon hatte angehalten, um die Plätze zu tauschen. Ich kletterte aus dem Auto und streckte mich. Mir tat noch immer der Kopf weh, meine Wirbelsäule fühlte sich etwas steif an, aber ich war ausgeruhter als Simon, der nach hinten kroch und sofort einschlief.
Ich wusste nicht, wo wir waren, abgesehen davon, dass wir nach wie vor auf der I-40 Richtung Osten fuhren und das Land hier weniger ausgedörrt war: zu beiden Seiten der Straße erstreckten sich bewässerte Felder unter einem karmesinroten Mond. Ich überzeugte mich davon, dass Diane bequem lag und frei atmen konnte, und ließ alle Türen für eine Weile offen stehen, um die schlechte Luft, ein mit Blut und Benzin vermischter Krankenzimmergeruch, zu vertreiben. Dann setzte ich mich ans Steuer.
Nur wenig Sterne hingen über der Straße, und sie waren schwer zu erkennen. Ich dachte an den Mars. Befand er sich noch unter einer Spinmembran oder war er, ebenso wie die Erde, freigesetzt worden? Ich wusste nicht, wo am Himmel ich nach ihm suchen musste, und selbst wenn ich ihn fand, würde ich wohl kaum Einzelheiten erkennen können. Was ich aber sah — gar nicht übersehen konnte —, war die geheimnisvolle Silberlinie, auf die mich Simon noch in Arizona aufmerksam gemacht und die ich fälschlich für einen Kondensationsstreifen gehalten hatte. Jetzt war sie sogar noch auffälliger. Sie war vom westlichen Horizont fast bis zum Zenit gewandert, und aus der sanften Kurve war ein Oval geworden, ein abgeflachtes O.
Der Himmel, den ich über mir sah, war drei Milliarden Jahre älter als der, den ich zuletzt vom Rasen des Großen Hauses aus gesehen hatte. Man musste wohl damit rechnen, dass er alle möglichen Geheimnisse in sich trug.
Als wir wieder unterwegs waren, testete ich das Autoradio, das in der Nacht zuvor stumm geblieben war. Es war nichts Digitales zu empfangen, doch nach einigem Suchen erwischte ich einen Lokalsender auf dem FM-Band — einer von denen, die sich normalerweise ganz der Countrymusik und der Christlichkeit widmen. Jetzt allerdings wurde nur geredet. Ich erfuhr eine ganze Menge, bevor der Empfang schließlich im Rauschen unterging.
Ich erfuhr etwa, dass wir gut beraten gewesen waren, größere Städte zu meiden. Die Städte waren Katastrophengebiete — nicht auf Grund von Plünderungen und Gewalt (davon hatte es überraschend wenig gegeben), sondern wegen des völligen Zusammenbruchs der Infrastruktur. Der Aufgang der roten Sonne hatte so sehr nach dem lange vorhergesagten Tod der Erde ausgesehen, dass die meisten Leute einfach zu Hause geblieben waren, um gemeinsam mit ihren Familien zu sterben, und der städtische Betrieb weitgehend zum Erliegen kam: Polizei und Feuerwehr waren praktisch nicht mehr vorhanden, die Krankenhäuser hoffnungslos unterbesetzt.
Die vergleichsweise wenigen Leute, die sich zu erschießen versuchten oder große Mengen von Alkohol, Kokain, Oxycontin oder Amphetaminen einnahmen, verursachten in ihrer Unachtsamkeit die akutesten Probleme: sie wurden beim Autofahren bewusstlos oder ließen, während sie starben, brennende Zigaretten fallen. Wenn der Teppich dann zu glimmen begann oder die Vorhänge in Flammen aufgingen, war niemand da, um 911 zu wählen, und in vielen Fällen wäre bei der Feuerwehr auch niemand dagewesen, um den Anruf entgegenzunehmen. Kleine Feuer wurden auf diese Weise schnell zu Großbränden.
Vier große Rauchsäulen stiegen aus Oklahoma City auf, sagte der Nachrichtensprecher, und telefonischen Berichten zufolge lagen die südlichen Stadtteile von Chicago weitgehend in Schutt und Asche. Jede Großstadt im Land — sofern überhaupt Kontakt bestand — meldete wenigstens einen oder zwei außer Kontrolle geratene Brände.
Nachdem sich allerdings die Möglichkeit abgezeichnet hatte, dass die menschliche Rasse zumindest noch ein paar Tage länger überleben würde, waren wieder wesentlich mehr Notfallhelfer und kommunale Angestellte auf ihre Posten zurückgekehrt. (Die Kehrseite war, dass die Leute sich jetzt Sorgen machten, wie lange wohl ihre Vorräte reichen würden: Plünderungen von Lebensmittelgeschäften wurden zusehends zu einem Problem.) Wer keine unverzichtbaren Dienste zu leisten hatte, wurde aufgefordert, zu Hause zu bleiben — die Botschaft war vor Sonnenaufgang über Notübertragungssysteme und über jede noch funktionierende Radio- und Fernsehleitung verbreitet worden und wurde jetzt am Abend wiederholt. Was als Erklärung dafür dienen mochte, warum so wenig Verkehr herrschte. Ich hatte ein paar Militär- und Polizeipatrouillen gesehen, aber keine davon hatte uns aufgehalten, vermutlich wegen des Schildes an meinem Auto — nach dem ersten Flackern hatten die meisten Staaten, darunter auch Kalifornien, Notdienstplaketten an Ärzte ausgegeben.
Die Arbeit der Polizei war ohnehin lückenhaft. Das reguläre Militär blieb trotz mancher Desertationen mehr oder weniger intakt, doch die Einheiten der Reserve und der Nationalgarde waren arg reduziert und konnten die örtlichen Behörden nicht unterstützen. Lückenhaft war auch die Stromversorgung; die meisten Elektrizitätswerke waren unterbesetzt und kaum funktionstüchtig, sodass sich immer mehr Ausfälle über das Netz verbreiteten. Es gingen Gerüchte um, wonach die Atomkraftwerke San Onofre in Kalifornien und Pickering in Kanada kurz vor der Kernschmelze standen, aber dafür gab es bislang noch keine Bestätigung.
Der Nachrichtensprecher verlas eine Liste von Nahrungsmitteldepots und von Krankenhäusern, die ihren Betrieb aufrecht erhielten (mit geschätzten Wartezeiten), sowie Erste-Hilfe-Tipps für zu Hause. Und eine vom Wetteramt ausgegebene Warnung vor längeren Aufenthalten in der Sonne. Das Sonnenlicht scheine zwar nicht unmittelbar tödlich zu sein, doch eine übermäßige UV-Belastung könne, so hieß es, zu »langfristigen Problemen« führen — und das war ebenso traurig wie komisch.
Ich empfing noch einige vereinzelte Sendungen bis zum Morgengrauen, doch bald ließ die aufsteigende Sonne alles in Rauschen untergehen.
Der Tag brach unter Wolken an. Ich musste also nicht direkt ins grelle Sonnenlicht hineinfahren, aber selbst dieser gedämpfte Sonnenaufgang war bedrückend fremdartig. Die östliche Hälfte des Himmels wurde zu einer brodelnden Suppe aus rotem Licht, auf ihre Art ebenso hypnotisch wie die Glut eines erlöschenden Lagerfeuers. Gelegentlich teilten sich die Wolken, und bernsteinfarbene Sonnenstrahlen fingerten übers Land. Um die Mittagszeit jedoch hatte sich die Bewölkung verdichtet, und bald begann es zu regnen — ein heißer, lebloser Regen, der sich über den Highway legte und die kränklichen Farben des Himmels spiegelte.