Am Morgen hatte ich den letzten Benzinkanister in den Tank gefüllt, und irgendwo zwischen Cairo und Lexington begann sich die Nadel der Benzinanzeige bedrohlich dem roten Bereich zu nähern. Ich weckte Simon und sagte ihm, dass ich die nächste Tankstelle ansteuern würde — und jede weitere, die danach kam, bis wir eine gefunden hatten, die uns Benzin verkaufte.
Die nächste Tankstelle erwies sich als ein kleines familienbetriebenes Franchise mit vier Pumpen und angeschlossenem Imbiss, etwa einen halben Kilometer abseits des Highways gelegen. Der Laden war dunkel und die Pumpen vermutlich außer Betrieb, aber ich fuhr trotzdem vor, stieg aus dem Auto und nahm den Zapfhahn vom Haken.
Ein Mann mit einer Mütze der Cincinnati Bengals auf dem Kopf und einem Schrotgewehr in der Hand erschien von der Seite des Gebäudes her. »Das wird nichts«, sagte er.
Ich steckte den Zapfhahn langsam zurück. »Sie haben keinen Strom?«
»Richtig.«
»Und kein Notaggregat?«
Er zuckte mit den Achseln und kam näher. Simon schickte sich an, aus dem Wagen zu steigen, aber ich winkte ihn zurück. Der Mann mit der Bengals-Mütze — er war ungefähr dreißig und hatte schätzungsweise dreißig Pfund Übergewicht — besah sich den auf der Rückbank installierten Infusionstropf. Dann warf er einen Blick auf das Nummernschild. Es war ein kalifornisches, was mir vermutlich keine Goodwillpunkte einbrachte, doch die Notdienstplakette war deutlich zu sehen. »Sie sind Arzt?«
»Ja. Tyler Dupree. Dr. med.«
»Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen nicht die Hand schüttele. Ist das Ihre Frau da drin?«
Ich bejahte, weil das unkomplizierter war, als lange Erklärungen abzugeben. Simon sah mich an, erhob aber keinen Einspruch.
»Haben Sie irgendwelche Papiere, die belegen, dass Sie Arzt sind? Nichts für ungut, aber es hat in den letzten Tagen eine Menge Autodiebstähle gegeben.«
Ich zog meine Brieftasche hervor und warf sie vor ihm auf den Boden. Er hob sie auf, betrachtete das Kartenfach, fischte eine Brille aus seiner Hemdtasche, sah noch einmal genau hin. Schließlich gab er mir die Brieftasche zurück. »Tut mir Leid, Dr. Dupree. Ich bin Chuck Bernelli. Wenn Sie nur Benzin brauchen, stelle ich die Pumpen an. Falls Sie mehr benötigen, kostet es mich eine Minute, den Laden zu öffnen.«
»Das Benzin brauche ich auf jeden Fall. Verpflegung wäre zwar schön, aber ich habe nicht viel Bargeld bei mir.«
»Zum Teufel damit. Für Kriminelle und Betrunkene — und daran herrscht momentan kein Mangel auf den Straßen — haben wir geschlossen, aber fürs Militär und für die Autobahnpolizei machen wir jederzeit auf. Und auch für Mediziner. Jedenfalls so lange es noch Benzin gibt. Ich hoffe, Ihrer Frau geht es nicht allzu schlecht.«
»Nicht, wenn ich sie dahin bekomme, wo ich hinwill.«
»Lexington V. A.? Samaritan?«
»Ein bisschen weiter noch. Sie braucht spezielle Behandlung.«
Er blickte zum Auto. Simon hatte die Fenster heruntergelassen, damit frische Luft hineinwehte. Regen klatschte auf das staubige Fahrzeug und den öligen, von Pfützen übersäten Asphalt. Diane drehte sich im Schlaf um, begann zu husten. Bernelli runzelte die Stirn. »Dann mach ich mal die Pumpen an. Sie wollen sicher gleich weiter.«
Bevor wir wieder losfuhren, stellte er noch einige Lebensmittel für uns zusammen: ein paar Suppendosen, eine Schachtel Cracker, einen Dosenöffner. Aber er kam nicht in die Nähe des Autos.
Quälender, periodisch auftretender Husten ist ein typisches Symptom für KVES. Es mutet schon beinahe hinterhältig an, wie der Erreger seine Opfer vorerst schont, es vorzieht, sie erst einmal nicht in einer verheerenden Pneumonie zu ertränken, obwohl das dann letzten Endes doch das Mittel ist, mit dem er sie umbringt — sofern nicht schon vorher komplettes Herzversagen eintritt. Bei dem Großhändler in der Nähe von Flagstaff hatte ich mir einen Sauerstoffbehälter und eine Maske verschafft, und als der Husten Dianes Atmung zu beeinträchtigen begann — sie war am Rande der Panik, verdrehte die Augen, weil sie das Gefühl hatte, in ihrem eigenen Sputum zu ertrinken —, machte ich die Atemwege, so gut es ging, frei und hielt ihr die Sauerstoffmaske über Mund und Gesicht, während Simon fuhr.
Irgendwann wurde sie ruhiger, ihre Gesichtsfarbe normalisierte sich, und sie konnte wieder schlafen. Ich saß bei ihr, ihr fiebriger Kopf schmiegte sich an meine Schulter. Der Regen fiel unerbittlich und zwang uns, langsamer zu fahren. Jedes Mal wenn wir durch eine Senke fuhren, zog der Wagen eine schäumende Wasserwolke hinter sich her. Zum Abend hin schwand das Licht, hinterließ glimmende Kohlen am westlichen Horizont.
Es gab keinerlei Geräusche neben dem Trommeln des Regens auf dem Autodach, und ich war recht zufrieden damit, dem zuzuhören, als sich Simon plötzlich räusperte und fragte: »Bist du Atheist, Tyler?«
»Wie bitte?«
»Ich will nicht unhöflich sein, aber ich habe mich gefragt, ob du dich als Atheisten bezeichnen würdest?«
Ich wusste nicht recht, wie ich darauf antworten sollte. Simon hatte einen hilfreichen, ja unverzichtbaren Beitrag dazu geleistet, dass wir bis hierher gekommen waren. Doch er war auch jemand, der sein geistiges Kapital in einen Haufen unzurechnungsfähiger Dispensationalisten investiert hatte, deren einziger Einwand gegen das Ende der Welt darin bestand, dass es ihren detaillierten Erwartungen nicht entsprach. Ich wollte ihn nicht beleidigen, ich brauchte ihn noch — Diane brauchte ihn noch. Also sagte ich: »Spielt es denn eine Rolle, als was ich mich bezeichnen würde?«
»Ich war einfach nur neugierig.«
»Tja… Ich weiß es nicht. Schätze, das wäre meine Antwort. Ich erhebe nicht den Anspruch zu wissen, ob Gott existiert oder warum er das Universum auf diese Weise ins Schleudern gebracht hat. Tut mir Leid, Simon, das ist alles, was ich an der theologischen Front zu bieten habe.«
Einige Kilometer lang schwieg er. Dann sagte er: »Vielleicht ist es das, was Diane meinte.«
»Was sie wozu meinte?«
»Wenn wir darüber sprachen. Was wir übrigens länger nicht mehr getan haben, wenn ich’s mir recht überlege. Wir waren unterschiedlicher Ansicht über Pastor Dan und Jordan Tabernacle, auch vor dem Schisma schon. Ich fand, dass sie zu zynisch war. Sie sagte, ich sei zu leicht zu beeindrucken. Nun, kann schon sein. Pastor Dan besaß die Gabe, die Schrift aufzuschlagen und auf jeder Seite Erkenntnisse zu finden — solide wie ein Haus, Säulen und Grundpfeiler der Erkenntnis. Das ist wirklich eine Gabe, weißt du. Ich selber kann es nicht. So sehr ich es versuche, ich bin bis heute nicht in der Lage, die Bibel aufzuschlagen und sofort zu begreifen, was da steht.«
»Vielleicht ist es auch gar nicht so gedacht.«
»Ich wollte es aber. Ich wollte so sein wie Pastor Dan — klug und immer, na ja, mit festem Boden unter den Füßen. Diane sagte, es sei ein Teufelspakt, Dan Condon hätte Demut gegen Gewissheit getauscht. Vielleicht ist es das, was mir abging. Und vielleicht ist es das, was sie in dir sah, warum sie all die Jahre an dir festgehalten hat: deine Demut.«
»Simon, ich…«
»Schon gut. Das ist nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest, und du brauchst es auch nicht um meinetwillen zu beschönigen. Ich weiß, dass sie dich angerufen hat, wenn sie dachte, ich schlafe, oder wenn ich außer Haus war. Ich weiß, dass ich mich glücklich schätzen darf, sie so lange bei mir gehabt zu haben.« Er drehte sich zu mir um. »Würdest du mir einen Gefallen tun? Sag ihr bitte, es täte mir Leid, dass ich mich nicht besser um sie gekümmert habe, als sie krank wurde.«
»Das kannst du ihr doch selber sagen.«
Er nickte nachdenklich und fuhr tiefer in den Regen hinein. Ich sagte ihm, er solle versuchen, nützliche Informationen im Radio zu finden, jetzt, wo es wieder dunkel war. Meine Absicht war, wach zu bleiben und zuzuhören, aber ich hatte rasende Kopfschmerzen und begann alles doppelt zu sehen, und nach einer Weile schien es dann doch angenehmer, einfach die Augen zu schließen und zu schlafen.