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»Gefressen« trägt hier allerdings eine spezielle Bedeutung: So nützlich sie ihm auch sein mögen, der Räuber will mehr als die kohlenstoffhaltigen Moleküle, aus denen die Replikatoren bestehen. Viel interessanter für ihn ist ihre Bedeutung, die in ihre Reproduktionsmuster eingeschriebenen Funktionen und Strategien. Von diesen übernimmt er, was ihm potenziell wertvoll erscheint, dann reorganisiert und nutzt er die Replikatorenkolonie für seine eigenen Zwecke. Die Kolonie stirbt nicht, sie wird absorbiert, ontologisch verschlungen, sie wird, zusammen mit ihren Geschwistern, einer größeren, komplexeren und sehr viel älteren interstellaren Hierarchie unterstellt.

Und sie ist weder das erste noch das letzte derartige Konstrukt, das auf diese Weise »gefressen« wird.

»Replikatorennetzwerke«, sagte Jason, »gehören zu den Dingen, deren Erzeugung sich für intelligente Zivilisationen sozusagen aufdrängt. Angesichts der Grenzen, die das Reisen bei Sublichtgeschwindigkeit der Erforschung der Galaxis setzt, begnügen sich die meisten technologischen Kulturen mit einem Netz von Von-Neumann-Maschinen — Replikatoren —, das einen steten Fluss von wissenschaftlichen Informationen erzeugt, der sich im Laufe der Zeit exponentiell ausdehnt.«

»Okay, das verstehe ich so weit. Die marsianischen Replikatoren sind nicht einzigartig. Sie sind auf etwas gestoßen, das du eine Ökologie nennst…«

»Eine Von-Neumann-Ökologie.« (Nach dem im zwanzigsten Jahrhundert lebenden Mathematiker John von Neumann, der als Erster von der Möglichkeit selbstreproduzierender Maschinen gesprochen hatte.)

»Eine Von-Neumann-Ökologie. Und von der wurden sie also absorbiert. Aber das verrät uns nichts über die Hypothetischen oder den Spin, oder.«

Jason schürzte ungeduldig die Lippen. »Die Hypothetischen sind die Von-Neumann-Ökologie, Tyler. Es ist ein und dasselbe.«

An diesem Punkt musste ich kurz Abstand nehmen und mir darüber klarwerden, wer das eigentlich war, der da zu mir sprach. Er sah aus wie Jason. Aber alles, was er sagte, zog seine Identität in Zweifel.

»Kommunizierst du mit dieser… Wesenheit? Jetzt, meine ich? In diesem Moment?«

»Ich weiß nicht, ob man es Kommunikation nennen kann. Kommunikation wirkt in zwei Richtungen. Das ist hier nicht der Fall, nicht in dem Sinne, den du unterstellst. Und wirkliche Kommunikation wäre auch nicht ganz so überwältigend wie das hier. Vor allem nachts — bei Tageslicht ist der Input reduziert, vermutlich weil die Sonnenstrahlung das Signal schluckt.«

»Nachts ist das Signal stärker?«

»Vielleicht ist auch das Wort ›Signal‹ irreführend. Ein Signal ist das, was die ursprünglichen Replikatoren übermitteln sollten. Was ich empfange, kommt über die gleiche Trägerwelle und übermittelt Information, aber es ist aktiv, nicht passiv. Es versucht, das mit mir zu machen, was es mit allen anderen Knotenpunkten im Netzwerk gemacht hat. Es versucht, mein Nervensystem zu übernehmen und neu zu programmieren.«

Dann war also tatsächlich ein drittes Wesen mit im Zimmer. Ich, Jase — und die Hypothetischen, die ihn bei lebendigem Leibe auffraßen. »Können sie das? Dein Nervensystem umprogrammieren?«

»Nicht erfolgreich, nein. Für sie wirke ich wie eine beliebige Schnittstelle im Replikatorennetzwerk. Die Biotechnologie, die ich mir gespritzt habe, ist empfänglich für ihren Eingriff, doch auf andere Weise, als sie erwarten. Und weil sie mich nicht als biologisches Wesen wahrnehmen, können sie nichts anderes tun, als mich zu töten.«

»Gibt es irgendeine Möglichkeit, dieses Signal abzublocken, dich davor zu schützen?«

»Nicht, dass ich wüsste. Falls die Marsianer über eine solche Technik verfügen, haben sie es unterlassen, dies in ihren Archiven zu dokumentieren.«

Das Fenster in Jasons Zimmer ging nach Westen. Der rosenfarbene Schimmer, der jetzt zu uns hereindrang, kam von der untergehenden, hinter Wolken versteckten Sonne. »Und sie sind jetzt bei dir. Sprechen zu dir.«

»Sie. Es. Wir brauchten ein besseres Pronomen. Die ganze Von-Neumann-Ökologie ist ein einzelnes Wesen. Es denkt seine eigenen langsamen Gedanken, macht seine eigenen Pläne. Aber viele von seinen Billionen Teilen sind ebenfalls autonome Individuen, die miteinander wetteifern, die schneller agieren als das Netzwerk im Ganzen und die sehr viel intelligenter sind als jedes menschliche Einzelwesen. Die Spinmembran zum Beispiel…«

»Die Spinmembran ist ein Individuum!«

»In jedem wesentlichen Sinne, ja. Seine Ziele und Zwecke empfängt es aus dem Netzwerk, aber es wertet Ereignisse aus und trifft autonome Entscheidungen. Es ist komplexer, als wir es uns im Traum hätten vorstellen können, Tyler. Wir haben angenommen, die Membran sei entweder an oder aus, wie ein Lichtschalter, wie ein binärer Kode. Aber mitnichten. Sie kennt viele Zustände, viele Zwecke. Viele Stufen der Durchlässigkeit beispielsweise. Wir wussten, dass sie ein Raumschiff passieren lassen und einen Asteroiden abwehren kann, aber sie besitzt noch weitaus subtilere Fähigkeiten. Das ist der Grund, warum wir in den letzten Tagen nicht von der Sonnenstrahlung überwältigt wurden — die Membran gewährt uns noch immer einen gewissen Schutz.«

»Ich weiß nicht, wie groß die Zahl der Todesopfer ist, Jase, aber es muss allein in dieser Stadt tausende von Menschen geben, die Angehörige verloren haben, seit der Spin zu Ende ist. Ich würde mich doch sehr schwer tun, diesen Leuten zu sagen, dass sie ›beschützt‹ werden.«

»Aber das werden sie. Die Spinmembran ist nicht Gott — sie sieht nicht den Spatzen vom Dach fallen. Doch sie kann verhindern, dass der Spatz an tödlichem ultraviolettem Licht verbrennt.«

»Und wofür das alles?«

Jason runzelte die Stirn. »Ich… bekomme es nicht recht zu fassen. Oder vielleicht kann ich es auch nicht übersetzen…«

Es klopfte an der Tür. Carol trat mit einem Arm voll Bettwäsche ins Zimmer.

Ich schaltete den Rekorder ab. »Saubere Laken?«

»Zum Festbinden.« Die Laken waren in Streifen geschnitten. »Wenn die Krämpfe anfangen.« Sie deutete zum Fenster, auf das schwindende Tageslicht.

»Danke«, sagte Jason sanft. »Tyler, wenn du eine Pause brauchst, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt. Aber bleib nicht zu lange.«

Ich ging, um nach Diane zu sehen, die sich in einem entspannten Zwischenstadium befand. Sie schlief. Ich dachte über das marsianische Mittel nach, das ich ihr verabreicht hatte, die »Basisvier«, in Jasons Worten, die halbintelligenten Moleküle, die zum Kampf gegen die KVES-Bakterien in ihrem Körper antraten, winzig kleine Bataillone, ausgehoben, um sie zu reparieren und umzubauen, sofern ihr Körper noch nicht zu geschwächt war, um diese Belastungen zu überstehen.

Ich küsste sie auf die Stirn und sprach sanfte Worte, die sie vermutlich nicht hörte. Dann ging ich die Treppe hinunter und hinaus auf den Rasen des Großen Hauses.

Der Regen hatte endlich aufgehört — abrupt und vollständig —, und die Luft war so frisch wie den ganzen Tag nicht. Der Himmel war am Zenit tiefblau. Ein paar Wolkenfetzen umspielten die monströse Sonne, die sich anschickte, den westlichen Horizont zu küssen. Regentropfen standen auf jedem einzelnen Grashalm, winzige, bernsteinfarbene Perlen.

Jason hatte gesagt, dass er sterben werde. Jetzt begann ich es mir selbst einzugestehen.

Als Arzt hatte ich den Tod besser kennen gelernt, als es die meisten Leute je tun. Ich wusste, wie Menschen sterben. Ich wusste, dass das gängige Bild unserer Einstellung zum Tod — als Abfolge von Verleugnung, Wut, Hinnahme — bestenfalls eine grobe Verallgemeinerung war. Diese Emotionen mögen sich innerhalb von Sekunden entwickeln oder auch gar nicht; der Tod kann sie jederzeit übertrumpfen. Für viele Menschen stellt sich die Frage gar nicht, wie man seinem Tod begegnet — ihr Tod kommt unangekündigt, als Folge einer gerissenen Aorta oder einer falschen Entscheidung an einer vielbefahrenen Kreuzung.