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»Nicht mehr so oft. Es scheint nicht mehr so dringend — das Bedürfnis, alles aufzuschreiben.«

»Oder die Angst, zu vergessen.«

»Oder das.«

»Und fühlst du dich anders?« Sie lächelte.

Ich war ein neuer Vierter. Diane nicht. Ihre Wunde hatte sich inzwischen geschlossen, ohne mehr als einen Streifen gekräuselter Haut zu hinterlassen, der der Krümmung ihrer Hüfte folgte. Die Selbstheilungskräfte ihres Körpers waren mir immer noch ein bisschen unheimlich. Obwohl ich sie, so stand zu vermuten, jetzt auch besaß.

Ihre Frage war ironisch gemeint. Viele Male hatte ich Diane gefragt, ob sie sich als Vierte anders fühlen würde, und die eigentliche Frage lautete: Kam sie mir anders vor?

Eine befriedigende Antwort darauf hatte es nie gegeben. Natürlich war sie verändert nach ihrer »Wiederauferstehung« im Großen Haus — wer wäre das nicht gewesen? Sie hatte einen Ehemann und einen Glauben verloren und war aus langer Agonie in eine Welt erwacht, bei deren Anblick sich wohl selbst ein Buddha vor Verblüffung am Kopf gekratzt hätte.

»Der Übergang ist nur eine Tür«, sagte sie. »Eine Tür zu einem Zimmer, in dem du noch nie gewesen bist, allenfalls hast du von Zeit zu Zeit einen Blick hineingeworfen. Jetzt ist es das Zimmer, in dem du wohnst, es ist deins, es gehört dir. Es hat bestimmte Eigenschaften, die du nicht verändern kannst. Du kannst es nicht größer oder kleiner machen. Aber wie du es einrichtest, das ist dir überlassen.«

»Eine ziemlich philosophische Antwort.«

»Tut mir Leid, mehr kann ich nicht anbieten.« Sie wandte ihren Blick hinauf zu den Sternen. »Sieh mal, man kann den Bogen sehen.«

Wir bezeichnen ihn als »Bogen«, weil wir eine in gewissem Sinne kurzsichtige Spezies sind. Der große Torbogen ist in Wirklichkeit ein Ring, ein Kreis mit einem Durchmesser von anderthalbtausend Kilometern, doch nur die Hälfte davon erhebt sich über den Meeresspiegel. Der Rest ist unter Wasser oder in der Erdkruste vergraben, vielleicht — so ist verschiedentlich spekuliert worden — um das subozeanische Magma als Energiequelle anzuzapfen. Aber aus unserem Ameisenblickwinkel war es in der Tat ein Bogen, dessen Scheitelpunkt ein gutes Stück über die Atmosphäre hinausreichte, und selbst seine exponierte Hälfte war vollständig sichtbar nur auf Fotos, die aus dem Weltraum aufgenommen wurden, Bilder, die in der Regel bearbeitet waren, um bestimmte Details hervorzuheben. Wenn man einen Querschnitt des Ringmaterials — der Draht, der zum Reifen gebogen wird — hätte machen können, würde sich ein Rechteck mit einer Kantenlänge von einem halben respektive anderthalb Kilometern ergeben. Gewaltig, dennoch nur ein winziger Bruchteil des Raums, den er umschloss — und von weitem eben nicht immer leicht zu sehen.

Die Route der Capetown Maru verlief südlich des Ringes, parallel zu seinem Radius und fast genau unterhalb seines Scheitels. Die Sonne strahlte noch immer auf diesen Gipfelpunkt, der nicht mehr wie ein gekrümmtes U oder J erschien, sondern wie ein mildes Stirnrunzeln (ein Stirnrunzeln über das ganze Gesicht, wie Diane einmal sagte) hoch oben am Nordhimmel. Sterne rotierten an ihm vorbei wie phosphoreszierendes Plankton, das vom Bug eines Schiffes geteilt wird.

Diane lehnte ihren Kopf gegen meine Schulter. »Ich wünschte, Jason hätte das hier sehen können.«

»Ich glaube, er hat es gesehen. Nur nicht aus dieser Perspektive.«

Im Großen Haus stellten sich nach Jasons Tod drei Probleme.

Das dringlichste betraf Diane, deren körperlicher Zustand noch Tage nach der Verabreichung der marsianischen Substanz unverändert blieb. Sie schwebte am Rande des Komas und wurde periodisch von heftigem Fieber ergriffen, Phasen, in denen ihr der Puls am Hals schlug wie ein flatternder Insektenflügel. Wir hatten kaum etwas da, um sie zu versorgen, und ich hatte Mühe, sie dazu zu bewegen, wenigstens hin und wieder einen Schluck Wasser zu trinken Der einzige echte Fortschritt war das Atemgeräusch, das entspannter und weniger schleimhaltig klang — wenigstens ihre Lunge befand sich also auf dem Weg der Besserung.

Das zweite Problem teilten wir mit vielen anderen Familien im ganzen Land: einer von uns war gestorben und musste beerdigt werden. Eine Welle des Todes — Unfall, Selbstmord, Mord — war in den letzten Tagen über die Welt hinweggespült, und kein Land der Erde war darauf vorbereitet, mit den Folgen umzugehen, außer auf die denkbar grobschlächtigste Art und Weise: Im Radio wurden Sammelstellen für Massenbegräbnisse bekannt gegeben; Kühlfahrzeuge von Fleischfabriken waren requiriert worden; es gab auch eine Nummer, die man anrufen konnte, jetzt wo das Netz wieder funktionsfähig war — jedoch Carol wollte von all dem nichts hören. Als ich das Thema anschnitt, fuhr sie empört auf: »Das werde ich nicht tun, Tyler. Ich lasse nicht zu, dass Jason in eine Grube geworfen wird wie die Armen im Mittelalter.«

»Aber wir können ihn nicht…«

»Still. Ich habe immer noch den einen oder anderen Kontakt von früher. Lass mich ein paar Anrufe machen.«

Sie war mal eine angesehene Fachärztin gewesen und musste in den Zeiten vor dem Spin über ein großes Netzwerk von Kontakten verfügt haben, doch nach dreißig Jahren alkoholseliger Abgeschiedenheit — wen konnte sie da noch kennen? Trotzdem verbrachte sie einen ganzen Vormittag am Telefon, machte geänderte Nummern ausfindig, stellte sich neu vor, erklärte, lockte, bat inständig. Für mich klang das alles hoffnungslos. Aber fünf Stunden später fuhr ein Leichenwagen die Auffahrt hinauf, zwei erschöpfte, doch unbeirrbar freundliche und kompetente Männer kamen herein, legten Jasons Leichnam auf eine Rollbahre und beförderten ihn — zum letzten Mal — aus dem Großen Haus.

Den Rest des Tages saß Carol im Obergeschoss, hielt Dianes Hand und sang Lieder, die diese nicht hören konnte. Am Abend dann genehmigte sie sich den ersten Drink seit dem Morgen, an dem die rote Sonne aufgegangen war — eine »Instandhaltungsdosis«, so nannte sie es.

Unser drittes Problem war E. D. Lawton.

E. D. musste darüber informiert werden, dass sein Sohn gestorben war, und Carol wappnete sich dafür, auch dieser Pflicht Genüge zu tun. Sie gestand, dass sie seit einigen Jahren nur noch über Anwälte mit E. D. gesprochen und er ihr immer Angst gemacht habe, jedenfalls wenn sie nüchtern war: Er war groß, herausfordernd, einschüchternd — Carol war zart, ausweichend, schüchtern. Ihre Trauer jedoch hatte die Gewichte ein wenig verschoben.

Es dauerte Stunden, doch irgendwann gelang es ihr, ihn zu erreichen — er war in Washington, eine kurze Autofahrt entfernt — und ins Bild zu setzen. Über die Todesursache äußerte sie sich nur vage, sie erzählte ihm, Jason sei mit einer Lungenentzündung nach Hause gekommen und sein Zustand habe sich dramatisch verschlechtert, kurz nachdem der Strom ausgefallen und die Welt aus den Fugen geraten war — kein Telefon, kein Notfalldienst, keine Hoffnung.

Ich fragte sie, wie E. D. die Nachricht aufgenommen habe.

Sie zuckte mit den Achseln. »Zuerst hat er gar nichts gesagt, Schweigen ist E. D.s Art, Schmerz auszudrücken. Sein Sohn ist gestorben. Das mag ihn nicht unbedingt überrascht haben, angesichts dessen, was in den letzten Tagen geschehen ist, aber es hat ihm wehgetan — ich glaube, es hat ihm unsagbar wehgetan.«

»Haben Sie ihm gesagt, dass Diane hier ist?«

»Ich hielt es für klüger, es nicht zu tun.« Sie sah mich an. »Ich habe ihm auch nicht gesagt, dass du hier bist. Ich weiß, dass Jason und E. D. Streit hatten. Jason ist nach Hause gekommen, um vor irgendetwas zu fliehen, was bei Perihelion vorging, etwas, das ihm Angst gemacht hat. Und ich nehme an, dass es etwas mit dem marsianischen Medikament zu tun hat. Nein, Tyler, du brauchst es mir nicht zu erklären — ich will es nicht hören, würde es vermutlich auch gar nicht verstehen. Aber ich dachte, es wäre besser, wenn E. D. hier nicht ins Haus einfallen und versuchen würde, die Kontrolle zu übernehmen.«