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Später beim Essen, wenige Stunden vor der Querung, erzählte ich Diane von dem Vorfall. »Ich habe völlig ohne Überlegung gehandelt. Es schien einfach… naheliegend. Wie ein Reflex. Hat das etwas mit dem Viertentum zu tun?«

»Mag sein. Der Impuls, ein Opfer zu beschützen, zumal wenn es ein Kind ist, und es spontan, ohne Nachdenken zu tun — diesen Drang hab ich auch schon verspürt. Ich vermute, das ist etwas, das die Marsianer in unsere neurale Neukonstruktion eingeschrieben haben — vorausgesetzt, dass sie wirklich in der Lage sind, Gefühle derart fein zu steuern. Ich wünschte, wir hätten Wun Ngo Wen hier, damit er es uns erklärt. Oder Jason. Fühlte es sich erzwungen an?«

»Nein.«

»Oder falsch, unangemessen?«

»Nein. Ich glaube, es war genau das Richtige.«

»Aber vor der Behandlung hättest du so etwas nicht getan?«

»Vielleicht schon. Oder ich hätte es gewollt. Hätte aber wahrscheinlich so lange überlegt, bis es zu spät gewesen wäre.«

»Also bist du froh darüber.«

Nein. Einfach nur überrascht. Es sei gleichermaßen Ich wie marsianische Biotechnologie im Spiel gewesen, sagte Diane, und ich war geneigt, ihr zuzustimmen. Wie bei jedem anderen Übergang — von Kindheit zu Jugend, von Jugend zu Erwachsensein — bekam man es mit neuen Verpflichtungen zu tun, neuen Möglichkeiten, neuen Zweifeln.

Zum ersten Mal seit vielen Jahren war ich mir selbst wieder fremd.

Ich war fast fertig mit Packen, als Carol, ein wenig betrunken, die Treppe herunterkam, einen Schuhkarton im Arm. Der Karton trug die Aufschrift ANDENKEN (AUSBILDUNG). »Das solltest du an dich nehmen«, sagte sie. »Es gehörte deiner Mutter.«

»Wenn es Ihnen etwas bedeutet, behalten Sie’s ruhig.« »Danke, aber was ich daraus haben wollte, habe ich mir bereits genommen.«

Ich öffnete den Deckel und warf einen Blick auf den Inhalt. »Die Briefe.« Die anonymen Briefe, adressiert an Belinda Sutton, wie meine Mutter mit Mädchennamen hieß.

»Ja. Dann hast du sie also gesehen. Hast du sie mal gelesen?«

»Nein, nicht richtig. Gerade mal genug, um zu sehen, dass es Liebesbriefe waren.«

»O Gott, das klingt so süßlich. Ich würde sie eher als Huldigungen ansehen. Sie sind eigentlich ziemlich keusch, wenn man genau liest. Nicht unterschrieben. Deine Mutter hat sie bekommen, als wir noch auf der Universität waren. Sie ging damals mit deinem Vater aus, und dem konnte sie sie schwerlich zeigen — er hat ihr ja selbst Briefe geschrieben. Also hat sie sie mir gezeigt.«

»Sie hat nie herausgefunden, von wem sie kamen?«

»Nein, nie.«

»Sie muss doch neugierig gewesen sein.«

»Natürlich. Aber sie war inzwischen mit Marcus verlobt. Sie hatte ihn kennen gelernt, als er und E. D. ihr erstes Unternehmen gründeten — die Entwicklung und Fertigung von Höhenballons —, damals, als die Aerostaten noch ›Blauer Himmel‹-Technologie waren, wie Marcus es nannte, ein bisschen verrückt, ein bisschen idealistisch. Belinda nannte die beiden die Zeppelin-Brüder. Also waren wir wohl die Zeppelin-Schwestern, Belinda und ich. Denn zu der Zeit begann ich mit E. D. zu flirten. Weißt du, in gewisser Weise war meine ganze Ehe nichts anderes als der Versuch, mit deiner Mutter befreundet zu bleiben.«

»Die Briefe…«

»Interessant, nicht wahr, dass sie sie all die Jahre aufbewahrt hat. Irgendwann habe ich sie gefragt, warum. Warum sie nicht einfach wegwerfen? Sie erwiderte: ›Weil sie aufrichtig sind.‹ Das war ihre Art, die Person zu ehren, die sie geschrieben hatte. Der letzte Brief traf eine Woche vor ihrer Hochzeit ein. Danach keine mehr. Und ein Jahr später habe ich E. D. geheiratet. Auch als Paare waren wir unzertrennlich, hat sie dir das je erzählt? Wir sind zusammen in Urlaub gefahren, zusammen ins Kino gegangen. Belinda kam zu mir ins Krankenhaus, als die Zwillinge geboren wurden, und ich habe ihr die Tür aufgemacht, als sie dich zum ersten Mal nach Haus brachte. Aber das alles ging zu Ende nach Marcus’ Unfall. Dein Vater war ein wundervoller Mensch, Tyler, sehr direkt, sehr witzig, der Einzige, der E. D. zum Lachen bringen konnte. Doch leider auch sehr leichtsinnig. Belinda war am Boden zerstört, als er starb. Und nicht nur seelisch. Marcus hatte den Großteil ihrer Ersparnisse durchgebracht, und von dem, was noch übrig war, musste sie die Hypothek tilgen, die auf ihrem Haus in Pasadena lag. Als also E. D. nach Osten ging und wir dieses Grundstück kauften, da lag es irgendwie nahe, ihr anzubieten, das Gästehaus zu beziehen.«

»Und den Haushalt zu führen.«

»Das war E. D.s Idee. Ich wollte sie einfach nur in der Nähe haben. Meine Ehe war nicht so erfolgreich, wie ihre es gewesen war. Eher das Gegenteil. Und sie war mehr oder weniger die einzige Freundin, die ich hatte. Die Einzige, der ich alles anvertrauen konnte. Fast alles.«

»Deswegen wollen Sie die Briefe behalten? Weil sie Teil Ihrer gemeinsamen Geschichte sind?«

Carol lächelte wie zu einem Kind, das etwas schwer von Begriff ist. »Nein, Tyler. Ich hab’s doch gesagt — es sind meine Briefe.« Sie zwinkerte. »Nun schau nicht so fassungslos. Deine Mutter war so heterosexuell, wie eine Frau nur sein kann. Ich hatte einfach das Pech, mich in sie zu verlieben. Mich so verzweifelt in sie zu verlieben, dass ich bereit war, alles zu tun — sogar einen Mann zu heiraten, der einen etwas widerlichen Eindruck machte, schon damals —, nur um in ihrer Nähe zu bleiben. Die ganze Zeit über, Tyler, in all den Jahren, habe ich ihr nie etwas von meinen Gefühlen verraten. Nie, außer in diesen Briefen. Ich habe mich gefreut, dass sie sie aufbewahrte, auch wenn sie mir immer ein wenig gefährlich vorkamen, wie etwas Explosives oder Radioaktives, ein Zeugnis meiner Narrheit. Als deine Mutter starb — ich meine, genau an dem Tag, als sie starb —, habe ich Panik gekriegt. Ich versteckte die Schachtel. Ich dachte daran, die Briefe zu zerstören, aber ich konnte es nicht, hab’s nicht fertig gebracht. Und dann, als E. D. sich von mir hat scheiden lassen, als niemand mehr getäuscht werden musste, habe ich sie einfach an mich genommen. Weil es ja meine Briefe sind, nicht wahr. Es waren immer meine.«

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte.

Carol sah den Ausdruck in meinem Gesicht und legte ihre zerbrechlichen Hände auf meine Schultern. »Reg dich nicht auf. Die Welt ist voller Überraschungen. Wir sind uns und einander von Geburt an fremd — und nur selten werden wir formell vorgestellt.«

Also brachte ich vier Wochen in einem Motelzimmer in Vermont zu und versorgte Diane, während sie langsam gesundete.

Körperlich gesundete, sollte ich sagen. Das emotionale Trauma, das sie auf der Condon-Ranch und später erlitten hatte, wirkte nach, schlug sich in Erschöpfung und Introvertiertheit nieder. Sie hatte sich schon verabschiedet von einer Welt, die zu Ende zu gehen schien — und fand sich dann wider Erwarten in einer ganz anderen Welt wieder. Es stand nicht in meiner Macht, sie mit dem allen zu versöhnen. Ich erklärte, was erklärt werden musste. Ich erhob keine Forderungen und machte deutlich, dass ich keine Belohnung erwartete.

Ihr Interesse an der veränderten Welt wuchs nach und nach. Sie erkundigte sich nach der wieder in ihre angestammte Funktion eingesetzten Sonne, und ich gab an sie weiter, was mir Jason erzählt hatte: Die Spinmembran war noch da, aber die zeitliche Umhüllung beendet; sie schützte uns weiterhin, wie sie es die ganze Zeit getan hatte, indem sie die tödliche Strahlung in ein Simulakrum von Sonnenlicht umwandelte, das für das Ökosystem des Planeten verträglich war.

»Warum haben sie die Membran dann für sieben Tage abgeschaltet?«

»Sie wurde heruntergeschaltet, nicht abgeschaltet. Und das haben sie gemacht, damit etwas durch die Membran hindurchkommen konnte.«