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»Das Ding im Indischen Ozean.«

»Ja.«

Sie bat mich, ihr die Aufnahme von Jasons letzten Stunden vorzuspielen, und sie weinte, als sie sie hörte. Sie fragte nach seiner Asche. Hatte E. D. sie an sich genommen oder hatte Carol sie behalten? (Keines von beidem — Carol hatte sie mir in die Hand gedrückt mit der Aufforderung, ich solle damit machen, was mir angemessen erscheine. »Die Wahrheit ist, Tyler, dass du ihn besser kanntest als ich. Jason war für mich ein Geheimnis. Der Sohn seines Vaters. Aber du warst sein Freund.«)

Wir beobachteten, wie sich die Welt wiederentdeckte. Die Massenbegräbnisse nahmen ein Ende. Die trauernden, verängstigten Überlebenden begann zu begreifen, dass der Planet seine Zukunft zurückgewonnen hatte — so merkwürdig und fremd diese Zukunft auch sein mochte. Für unsere Generation war das ein atemberaubender Umschwung, der Mantel der Auslöschung war uns von den Schultern geglitten. Was würden wir ohne ihn anfangen? Wie würden wir darauf reagieren, dass wir nicht mehr zum Tode verdammt, dass wir nur noch sterblich waren?

Wir sahen die Aufnahmen der gewaltigen Konstruktion im Indischen Ozean, die sich in die Haut des Planeten gegraben hatte. Noch immer verdampfte das Meerwasser, wo es mit den gewaltigen Säulen in Berührung kam. Der Bogen, wurde er bald genannt, oder auch der Torbogen, nicht nur seiner Form wegen, auch weil etliche auf See befindliche Schiffe in die Häfen zurückkehrten mit Berichten über verschwundene Navigationspunkte, eigenartiges Wetter, durchdrehende Kompasse und Küstenlinien, wo es gar kein Land hätte geben dürfen. Diverse Seestreitkräfte wurden in Marsch gesetzt. Jasons »Testament« gab Hinweise auf eine Erklärung der Vorgänge, doch nur wenige Menschen wussten davon — ich, Diane, das Dutzend, denen es mit der Post zugestellt worden war.

Diane begann etwas für ihre Fitness zu tun, joggte, während das Wetter herbstlich wurde, auf einem unbefestigten Weg hinter dem Motel und kehrte mit dem Geruch nach gefallenem Laub und Holzrauch in den Haaren zurück. Ihr Appetit wuchs, ebenso wie das Speisenangebot im Coffeeshop. Es wurden wieder Nahrungsmittel geliefert, die Wirtschaft kam langsam wieder in Gang.

Wir erfuhren, dass auch der Mars vom Spin befreit war. Signale waren zwischen den beiden Planeten hin- und hergegangen, und in einer seiner Reden deutete Präsident Lomax an, dass das Raumfahrtprogramm wiederaufgelegt werden sollte, ein erster Schritt auf dem Weg zur Aufnahme ständiger Beziehungen mit »unserem Schwesterplaneten«, wie er sich ausdrückte.

Wir sprachen über die Vergangenheit. Wir sprachen über die Zukunft.

Was wir nicht taten: Wir fielen uns nicht in die Arme.

Wir kannten einander zu gut — oder nicht gut genug. Wir hatten eine Vergangenheit, aber keine Gegenwart. Und Diane machte sich große Sorgen um Simon.

»Er hat dich beinahe sterben lassen«, erinnerte ich sie.

»Nicht mit Absicht. Er ist nicht boshaft. Das weißt du.«

»Dann ist er gefährlich naiv.«

Nachdenklich schloss sie die Augen. Dann sagte sie: »Es gibt da eine Wendung, die Pastor Kobel vom Jordan Tabernacle gebrauchte: ›Sein Herz schrie nach Gott‹. Wenn es jemanden gibt, auf den das passt, dann Simon. Aber man muss den Satz verallgemeinern. ›Sein Herz schrie‹ — ich glaube, das sind wir alle, das ist universell. Du, Simon, ich, Jason. Sogar Carol. Und auch E. D. Wenn Menschen begreifen, wie groß das Universum und wie kurz ihr Leben ist, dann schreit ihr Herz auf. Manchmal ist es ein Freudenschrei — ich glaube, das war es bei Jason, und das war es, was ich an ihm nicht verstanden habe: Er war in der Lage, Ehrfurcht zu empfinden. Doch für die meisten von uns ist es ein Schreckensschrei. Der Schrecken des Todes, der Schrecken der Sinnlosigkeit. Unsere Herzen schreien auf. Vielleicht nach Gott, vielleicht nur, um das Schweigen zu übertönen.« Sie strich sich die Haare aus der Stirn, und ich sah, dass ihr Arm, vor nicht allzu langer Zeit noch erschreckend dünn, wieder rund und kräftig geworden war. »Ich glaube, der Schrei, der sich aus Simons Herz gelöst hat, war der reinste, unverfälschteste Laut, zu dem Menschen fähig sind. Nein, er ist kein guter Menschenkenner. Ja, er ist naiv. Deshalb ist er auch von einem Glauben zum nächsten geirrt: New Kingdom, Jordan Tabernacle, die Condon-Ranch — egal was, solange es offen und freimütig war, solange es ihm vermittelte, dass die Menschen eine Bedeutung haben.«

»Und unterdessen hättest du elendig zugrunde gehen können.«

»Ich sage nicht, dass er klug ist. Ich sage, dass er nicht böse ist.«

Später wusste ich diese Art zu denken und zu argumentieren besser einzuschätzen: Diane sprach wie eine Vierte. Mit Distanz, aber doch engagiert. Vertraulich, aber objektiv. Ich kann nicht sagen, dass es mir missfiel, doch von Zeit zu Zeit ließ es mir die Nackenhärchen zu Berge stehen.

Nicht lange, nachdem ich sie für vollständig gesund erklärt hatte, teilte mir Diane mit, dass sie weggehen wolle. Ich fragte sie, was sie vorhabe.

Sie müsse Simon finden, erwiderte sie. »Einige Dinge klären«, so oder so. Schließlich wären sie immer noch verheiratet. Es war ihr wichtig, herauszufinden, ob er noch am Leben sei.

Ich machte sie darauf aufmerksam, dass sie weder Geld noch eine eigene Wohnung hatte. Sie sagte, sie würde schon irgendwie über die Runden kommen. Also gab ich ihr eine der Kreditkarten, mit denen mich Jason ausgestattet hatte, allerdings mit der Warnung verbunden, dass ich nicht dafür garantieren könne — ich hatte keine Ahnung, wer für die Deckung aufkam, wo das Limit lag und ob man sie anhand der Karte würde aufspüren können.

Sie fragte, wie sie mit mir in Verbindung treten könne.

»Ruf einfach an.« Sie hatte meine Nummer, jene über all die Jahre beibehaltene und weiterbezahlte Nummer eines Handys, das ich immer mit mir herumgetragen hatte, obwohl es sehr selten klingelte.

Dann fuhr ich sie zum nächsten Busbahnhof.

Das Handy klingelte sechs Monate später, als die Zeitungen haufenweise Artikel über »die neue Welt« produzierten und die TV-Sender erste Bilder einer felsigen, wilden Landspitze »von der anderen Seite des Torbogens« zeigten.

Inzwischen hatten hunderte von Schiffen, große und kleine, die Überfahrt gewagt. Zum Teil waren es wissenschaftliche Expeditionen, von der UNO genehmigt, von der amerikanischen Marine eskortiert, von »eingebetteten« Reportern begleitet. Es gab aber auch viele private Charterfahrten. Und es gab Fischtrawler, die bei der Rückkehr in den Hafen einen Fang im Laderaum hatten, der bei schlechten Lichtverhältnissen als Kabeljau durchgehen konnte. Das war natürlich streng untersagt, doch bis das Verbot in Kraft getreten war, hatte sich der »Bogenkabeljau« bereits auf allen asiatischen Märkten breitgemacht. Er erwies sich als essbar und sogar nahrhaft. Was man, wie Jason gesagt hätte, als Anhaltspunkt werten durfte — als der Fisch einer DNA-Analyse unterzogen wurde, wies sein Genom auf entfernte terrestrische Abstammung hin. Die neue Welt war nicht nur gastlich, sie schien auch menschlichen Bedürfnissen gemäß ausgestattet zu sein.

»Ich habe Simon gefunden«, sagte Diane.

»Und?«

»Er lebt in einem Wohnwagenpark am Rand von Wilmington. Er verdient ein wenig Geld mit Reparaturen — Fahrräder, Toaster, solche Sachen. Ansonsten lebt er von der Wohlfahrt und besucht eine kleine Pfingstkirche.«

»Hat er sich gefreut, dich zu sehen?«

»Er wollte gar nicht wieder aufhören, sich für das zu entschuldigen, was auf der Condon-Ranch passiert ist. Er sagte, er will es wieder gutmachen. Er hat mich gefragt, ob es irgendetwas gibt, was er tun kann, um mir das Leben zu erleichtern.«

Ich umklammerte das Handy ein bisschen fester. »Was hast du ihm gesagt?«

»Dass ich mich scheiden lassen will. Er war einverstanden. Und er hat noch was gesagt — er meinte, ich hätte mich verändert, irgendetwas sei anders an mir. Er konnte es nicht genau festmachen. Aber ich glaube, es hat ihm nicht gefallen.«