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Er zeigte uns seine Zeichnung: Bilder von Tieren, die er in Videofilmen aus der Ebene von Äquatoria gesehen haben musste, langhalsige Geschöpfe mit nachdenklichen Augen und tigergestreiftem Fell.

»Sie sind wunderschön«, sagte Diane.

En nickte feierlich. Wir überließen ihn seiner Arbeit und gingen wieder aufs Deck.

Der Nachthimmel war klar, und der Scheitel des Bogens jetzt genau über uns. Ein letztes Schimmern des Lichts reflektierend, wies er aus diesem Blickwinkel nicht die geringste Krümmung auf, sondern stellte eine reine euklidische Gerade dar, eine elementare Zahl [1] oder einen Buchstaben [I].

Wir standen an der Reling, so nahe zum Bug des Schiffes hin, wie es uns möglich war. Der Wind zerrte an unserer Kleidung, unseren Haaren. Die Schiffsflaggen knatterten, das Meer warf zerklüftete Spiegelbilder der Positionslampen zurück.

»Hast du sie?«, fragte Diane.

Sie meinte die winzige Phiole, die einen Teil von Jasons Asche enthielt. Wir hatten diese Zeremonie — wenn man es denn so nennen konnte — geplant, lange bevor wir Montreal verlassen hatten. Jason hatte sich nie viel aus Gedenkaktionen gemacht, aber ich glaube, diese hätte er gutgeheißen. »Hier.« Ich zog das Keramikröhrchen aus meiner Tasche.

»Er fehlt mir. Er fehlt mir immerzu.« Sie schmiegte sich an meine Schulter, und ich legte meinen Arm um sie. »Ich wünschte, ich hätte ihn als Vierten erlebt. Doch ich glaube nicht, dass es ihn sehr verändert hat.«

»Nein, gar nicht.«

»In gewisser Weise war Jason immer ein Vierter.«

Als wir uns dem Augenblick der Überfahrt näherten, schienen die Sterne zu verblassen, als würde etwas Gazeartiges das Schiff umhüllen. Ich öffnete das Röhrchen mit Jasons Asche. Diane legte ihre Hand auf meine.

Plötzlich drehte der Wind, und die Temperatur fiel um ein oder zwei Grad.

»Manchmal«, sagte sie, »wenn ich an die Hypothetischen denke, dann bekomme ich plötzlich Angst.«

»Wovor?«

»Dass wir ihr rotes Kalb sind. Oder das, was sich Jason von den Marsianern erhoffte. Dass sie von uns erwarten, wir würden sie vor irgendetwas retten. Etwas, vor dem sie Angst haben.«

Vielleicht war es so. Andererseits, dachte ich, werden wir das tun, was das Leben immer tut — alle Erwartungen enttäuschen.

Ich fühlte ein Zittern durch ihren Körper laufen. Über uns wurde die Bogengerade langsam blasser. Dunst legte sich über das Meer. Nur dass es kein Dunst im gewöhnlichen Sinne war — es hatte nichts mit Wetter zu tun.

Das letzte Schimmern des Bogens verschwand, ebenso der Horizont. Auf der Brücke der Capetown Maru musste der Kompass mit seiner Rotation begonnen haben. Der Kapitän ließ das Schiffshorn ertönen, ein brutaler Lärm, das Kreischen des empörten Raumes. Ich sah nach oben. Die Sterne wirbelten schwindelerregend umher.

»Jetzt«, rief Diane in den Lärm hinein.

Ich beugte mich über die Reling, und gemeinsam, die Hände aufeinander gelegt, drehten wir das Röhrchen um. Die Asche tanzte im Wind, glänzte wie Schnee, als sie von den Schiffslichtern erfasst wurde. Sie entschwand unseren Blicken, noch bevor sie auf das schwarze Wasser traf — aufgenommen, wie ich glauben möchte, von dem leeren Raum, den wir querten, dem zusammengefügten Ort zwischen den Sternen.

Diane lehnte sich gegen meine Brust. Der Klang des Horns pulsierte durch unser beider Körper, bis er schließlich verstummte.

Dann hob sie den Kopf. »Der Himmel«, sagte sie.

Die Sterne waren neu und fremdartig.

Am Morgen kamen wir hinauf aufs Deck, um die Luft der neuen Welt zu riechen und ihre Hitze zu spüren, wir alle miteinander: En, seine Eltern, Ibu Ina, die anderen Passagiere, sogar Jala und eine Reihe von Crewmitgliedern, die gerade keinen Dienst zu versehen hatten.

Es hätte auch die Erde sein können, der Farbe des Himmels und der Wärme der Sonnenstrahlen nach zu urteilen. Die Landspitze von Port Magellan zeichnete sich als gezackte Linie am Horizont ab, ein felsiges Vorgebirge und ein paar blasse Rauchsäulen, die zunächst senkrecht aufstiegen und dann, von höheren Winden erfasst, nach Westen abdrifteten.

Ina stellte sich zu uns an die Reling, En im Schlepptau. »Es sieht so vertraut aus«, sagte sie. »Und fühlt sich doch so anders an.«

Verschlungene Klumpen Grünzeug, dem Festland von Äquatoria durch Stürme oder Flut entrissen, schaukelten in unserem Kielwasser, riesige achtfingrige Blätter, die schlaff auf der Wasseroberfläche trieben. Der Bogen lag jetzt hinter uns, kein Tor nach außen mehr, sondern ein Tor zurück nach innen, eine ganz neue Art von Tor.

Ina sagte: »Es ist, als würde eine Geschichte zu Ende gehen und eine neue beginnen.«

En schüttelte den Kopf. »Nein.« Er lehnte sich in den Wind, als könnte er so die Zukunft ein Stück vorantreiben. »Die Geschichte beginnt erst, wenn wir landen.«

Danksagung

Aus Gründen der Dramaturgie habe ich für »Spin« einige Krankheiten erfunden. KVES ist eine imaginäre, von Rindern übertragene Krankheit, für die es keine Entsprechung in der realen Welt gibt. Auch AMS ist ganz und gar ausgedacht, doch ihre Symptome ähneln denen der multiplen Sklerose, einer leider sehr realen Krankheit. Zwar ist MS bisher noch nicht heilbar, aber es zeichnen sich eine Reihe von vielversprechenden neuen Therapien ab. Dennoch sollte man Science-Fiction-Romane nicht mit einer medizinischen Fachzeitschrift verwechseln. Leser, die sich näher über MS informieren möchten, finden die beste Informationsquelle unter www.nationalmssociety.org.

Die für Sumatra und das Volk der Minangkabau extrapolierte Zukunft ist ebenfalls weitgehend ein Produkt meiner Fantasie, allerdings hat die matrilineare Kultur der Minangkabau sowie ihre Koexistenz mit dem modernen Islam längst die Aufmerksamkeit der Anthropologen geweckt — siehe Peggy Reeves Sandays Studie »Women at the Center: Life in a Modern Matriarchy«.

Wer sich für den aktuellen wissenschaftlichen Diskurs über die Evolution und die Zukunft des Sonnensystems interessiert und Informationen sucht, die nicht von der Science Fiction eingefärbt sind, könnte hier fündig werden: »The Life and Death of Planet Earth« von Peter D. Ward und Donald Brownlee oder »Our Cosmic Origins« von Armand Delsemme.

Viele Leute haben mir beim Schreiben dieses Buches geholfen (und ich danke ihnen allen), der Preis für den unverzichtbarsten Beitrag aber geht einmal mehr an meine Frau Sharry.

Robert Charles Wilson

Spin

Roman

Aus dem kanadischen Englisch von Karsten Singelmann

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe: SPIN

3. Auflage

Deutsche Erstausgabe 8/06

Redaktion: Alexander Martin

Copyright © 2005 by Robert Charles Wilson

Copyright © 2006 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

www.heyne.de

Printed in Germany 2006

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN-10: 3-453-52200-1

ISBN-13: 978-3-453-52200-8