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»Bedauerlicherweise ja.«

Sie saß in einem Korbsessel neben dem Bett. Sie hatte Essen aufs Zimmer kommen lassen, Rührei und Orangensaft, daher vermutete ich, dass es Morgen war. Der Himmel hinter den hauchdünnen Vorhängen war blau. Die Balkontür stand offen, ließ angenehm warme Luft und den Geruch des Meeres herein. »Tut mir Leid«, sagte ich.

»Du warst nicht bei dir. Ich würde sagen, vergiss es. Aber anscheinend hast du das bereits.« Sie legte eine Hand auf meine Stirn. »Und es ist noch nicht vorbei, fürchte ich.«

»Wie lange?«

»Bis jetzt eine Woche.«

»Erst eine Woche?«

»Erst eine Woche.«

Ich war noch nicht einmal halb durch.

Aber die klaren Momente waren nützlich fürs Schreiben. Graphomanie ist eine von mehreren Nebenwirkungen der Substanz. Als Diane der gleichen Tortur ausgesetzt war, schrieb sie den Satz »Bin ich nicht meines Bruders Hüterin?« hunderte von Malen in nahezu identischer Schrift auf vierzehn Seiten Schreibpapier. Meine Schreibwut war allerdings ein bisschen zielgerichteter. Ich stapelte handbeschriebene Seiten auf dem Nachttisch, während ich auf die nächste Fieberattacke wartete, las noch einmal durch, was ich geschrieben hatte in dem Versuch, es für die Zukunft festzuhalten.

Diane verbrachte den Tag draußen. Als sie wiederkam, fragte ich sie, wo sie gewesen sei.

»Kontakte knüpfen«, erklärte sie mir. Sie sagte, sie habe Verbindung mit einem Transitmakler aufgenommen, einem Minang namens Jala, dessen Import-Export-Unternehmen als Tarnung für die weitaus lukrativere Emigrationsvermittlung diente. Jeder kenne Jala, sagte Diane. Außer uns bewarben sich auch noch einige verrückt-utopistische Kibbutzim um Plätze, daher war der Handel noch nicht in trockenen Tüchern, aber sie war vorsichtig optimistisch.

»Sei auf der Hut«, sagte ich. »Es könnte immer noch jemand nach uns suchen.«

»Nicht, soweit ich erkennen kann, aber…« Sie zuckte mit den Achseln. Warf einen Blick auf den Notizblock in meiner Hand. »Schreibst du wieder?«

»Lenkt mich von den Schmerzen ab.«

»Kannst du den Kugelschreiber einigermaßen halten?«

»Fühlt sich an wie unheilbare Arthritis, aber ich komm schon zurecht.« Bisher jedenfalls, dachte ich. »Die Ablenkung ist es in jedem Fall wert.«

Aber das war es natürlich nicht allein. Und es ging auch nicht einfach um Graphomanie. Das Schreiben war eine Möglichkeit, das als bedroht Empfundene zu objektivieren.

»Es ist wirklich sehr gut«, sagte Diane.

Ich sah sie entsetzt an. »Du hast es gelesen?«

»Du hast mich darum gebeten. Angefleht hast du mich, Tyler.«

»War ich im Delirium?«

»Offenbar. Zu dem Zeitpunkt hast du allerdings einen recht vernünftigen Eindruck gemacht.«

»Ich habe beim Schreiben nicht an ein Publikum gedacht.« Ich war schockiert, weil ich nicht mehr wusste, dass ich es ihr gezeigt hatte. Was mochte mir noch alles bereits entfallen sein?

»Dann werde ich nicht wieder reinsehen. Aber was du da schreibst…« Sie legte den Kopf schief. »Ich wundere mich und fühle mich geschmeichelt, dass du so starke Gefühle für mich hattest, damals schon.«

»Das kann dich kaum überrascht haben.«

»Mehr als du glaubst. Aber es ist paradox, Tyler. Das Mädchen, von dem du erzählst, ist gleichgültig, beinahe grausam.«

»So habe ich dich nie gesehen.«

»Es ist nicht deine Sicht, die mir Sorgen macht. Sondern meine.«

Ich hatte mich im Bett aufgesetzt, ein Akt der Stärke, wie ich mir einbildete, Beleg für meinen Stoizismus. Vermutlich war es aber eher Beleg dafür, dass die Schmerzmittel vorübergehend ihre Wirkung taten. Ich zitterte. Zittern war das erste Anzeichen für ein Wiederaufleben des Fiebers. »Willst du wissen, wann ich mich in dich verliebt habe? Vielleicht sollte ich darüber schreiben. Es ist wichtig. Das war, als ich zehn war…«

»Tyler, Tyler. Kein Mensch verliebt sich mit zehn Jahren.«

»Es war, als St. Augustine starb.« St. Augustine war ein lebhafter schwarzweißer Springer-Spaniel mit Stammbaum gewesen, ein Tier, das Diane besonders ans Herz gewachsen war. St. Dog, Heiliger Hund, hatte sie ihn genannt.

Sie zuckte zusammen. »Das ist makaber.«

Aber es war mir ernst. E. D. hatte den Hund spontan gekauft und nach Hause gebracht, wahrscheinlich, weil ihm etwas Dekoratives für den Kamin vorschwebte, zusammen mit einem Paar schöner alter Feuerböcke. Aber St. Dog hatte sich gegen dieses Schicksal aufgelehnt. Er war zwar durchaus dekorativ, aber auch neugierig und stellte allerlei Unfug an. Nach einiger Zeit hatte E. D. die Nase voll von ihm; Carol ignorierte ihn; Jason mochte ihn, konnte aber nichts mit ihm anfangen. Es war Diane, damals zwölf, die sich seiner annahm. Sie brachten aneinander das Beste zum Vorschein. Sechs Monate lang folgte St. Dog ihr überall hin, außer in den Schulbus. An Sommerabenden spielten die beiden zusammen auf dem großen Rasen, und dort bemerkte ich Diane zum ersten Mal auf diese besondere Weise — zum ersten Mal empfand ich Freude, ihr einfach nur zuzusehen. Sie rannte mit St. Dog durch die Gegend, bis sie nicht mehr konnte, und St. Dog wartete immer geduldig, während sie Atem schöpfte. Sie kümmerte sich aufopfernd um den Hund, war seine zentrale, wenn nicht die einzige Bezugsperson, hatte sogar ein Gespür dafür, wie er aufgelegt war (was umgekehrt natürlich ebenso galt).

Ich hätte nicht sagen können, warum mir das an ihr gefiel. Aber in der angespannten, emotional aufgeladenen Welt der Lawtons schuf sie damit eine Oase unkomplizierter Zuneigung. Als Hund wäre ich vielleicht eifersüchtig gewesen, so aber gewann ich den Eindruck, dass Diane etwas Besonderes war, in nicht unerheblicher Hinsicht anders als ihre Familie. Sie begegnete der Welt mit einer emotionalen Offenheit, die die anderen Lawtons verloren oder nie besessen hatten.

St. Augustine starb unerwartet und viel zu früh — er war kaum aus dem Welpenstadium heraus — im Herbst jenes Jahres. Diane war untröstlich, und ich begriff, dass ich in sie verliebt war… Nein, so klingt es wirklich makaber. Ich verliebte mich nicht in sie, weil sie um ihren Hund trauerte. Sondern ich verliebte mich in sie, weil sie fähig war, um den Hund zu trauern, während alle anderen entweder gleichgültig oder sogar heimlich erleichtert waren, dass St. Augustine endlich wieder aus dem Haus verschwunden war.

Sie wandte sich vom Bett ab, blickte zum sonnigen Fenster. »Es hat mir das Herz gebrochen, als er starb.«

Wir begruben St. Dog in dem Wäldchen hinter dem Rasen. Diane errichtete aus Steinen einen kleinen Grabhügel, den sie in jedem Frühjahr erneuerte, bis sie zehn Jahre später von zu Hause fortging.

Und sie betete am Grab, immer zum Wechsel der Jahreszeiten, still, die Hände gefaltet. Zu wem sie betete und wofür, das weiß ich nicht. Ich weiß nicht, was man macht, wenn man betet. Ich glaube nicht, dass ich dazu in der Lage wäre.

Aber das war der erste Hinweis für mich, dass Diane in einer Welt lebte, die größer war als das Große Haus, in einer Welt, in der Freud und Leid sich so schwerfällig bewegten wie die Gezeiten, mit dem Gewicht eines ganzen Ozeans dahinter.

In der Nacht kehrte das Fieber zurück. Ich erinnere mich an nichts mehr außer an eine stetig — in Stundenabständen — wiederkehrende Angst, dass die Substanz mehr Erinnerung löschen würde, als ich je wiedererlangen könnte; ein Gefühl von unwiederbringlichem Verlust, verwandt mit jenen Träumen, in denen man vergebens nach einer verlorenen Brieftasche, einer Uhr, einem wertvollen Besitz, dem Gefühl für sich selbst sucht. Ich meinte zu spüren, wie das marsianische Mittel in meinem Körper arbeitete, wie es neue Angriffe startete und vorläufige Waffenstillstände mit meinem Immunsystem vereinbarte, zelluläre Brückenköpfe errichtete, feindliche Chromosomsequenzen isolierte.

Als ich wieder zu mir kam, war Diane nicht da. Vom Schmerz abgeschirmt durch das Morphium, das sie mir gegeben hatte, stieg ich aus dem Bett und schaffte es, zur Toilette zu gehen. Danach schlurfte ich auf den Balkon hinaus.