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Inzwischen nannten wir es den Spin.

Obwohl der größere Teil der Welt nicht daran glaubte.

Die Umfragen waren ziemlich eindeutig. Die NASA hatte noch in jener Nacht, als Jason Diane und mich eingeweiht hatte, Datenmaterial der Orbitalsonden veröffentlicht, Ergebnisse, die bald durch eine Reihe von europäischen Erhebungen bestätigt wurden. Dennoch sah nur eine Minderheit der europäischen und nordamerikanischen Bevölkerung acht Jahre, nachdem sie über den Spin informiert worden war, diesen als »eine Bedrohung für sich oder ihre Familien« an. Und in weiten Teilen Asiens, Afrikas und des Nahen Ostens betrachteten stabile Mehrheiten die ganze Angelegenheit als amerikanische Verschwörung oder einen Unfall, ein fehlgeschlagener Versuch, ein Verteidigungssystem in der Art von SDI zu installieren.

Ich hatte Jason einmal gefragt, warum das so war. Er sagte: »Bedenke, was das ist, das sie da glauben sollen. Wir haben es, global gesehen, mit einer Bevölkerung zu tun, die ein fast noch vor-newtonsches Verständnis von Astronomie hat. Was brauchst du denn wirklich über den Mond und die Sterne zu wissen, wenn du ganz davon beansprucht bist, ausreichend Biomasse zusammenzukratzen, um dich und deine Familie zu ernähren? Um diesen Leuten irgendetwas Sinnvolles über den Spin zu erzählen, musst du ganz weit ausholen. Die Erde, musst du ihnen zuerst einmal sagen, ist einige Milliarden Jahre alt. Lass sie sich an der Vorstellung von ›einige Milliarden Jahre‹ abarbeiten. Da hat man viel zu schlucken, vor allem, wenn man in einer muslimischen Theokratie, einem animistischen Dorf oder einer Schule im Bible Belt unterrichtet worden ist. Dann erzähl ihnen, dass die Erde nicht unveränderlich ist, dass es ein Zeitalter, länger als das unsere, gegeben hat, in dem die Meere Dampf und die Luft Gift waren. Erzähl ihnen, wie das Leben spontan entstanden ist und sich über drei Milliarden Jahre sporadisch entwickelt hat, bevor das erste als Mensch zu bezeichnende Wesen zustande gekommen ist. Sprich dann über die Sonne, davon, dass auch die nicht ewig besteht, sondern als eine sich zusammenziehende Wolke aus Gas und Staub begonnen hat und eines Tages, in ein paar Milliarden Jahren, expandieren, die Erde verschlucken, ihre äußeren Schichten absprengen und zu einem kleinen Klumpen ultradichter Materie zusammenschrumpfen wird. Einführung in die Kosmologie, nicht wahr? Du kennst das alles aus diesen Paperbacks, die du früher gelesen hast, für dich ist das selbstverständlich, aber für die meisten Menschen ist es ein völlig neuer Blick auf die Welt und vermutlich verstößt es gegen ihre zentralen Glaubensdogmen. Also lass sie das erst mal langsam begreifen. Lass es sich setzen. Dann rück mit der wirklich schlechten Nachricht raus: Die Zeit selbst ist flüssig und unberechenbar. Die Welt, die so unerschütterlich wirkt — trotz all dem, was wir eben gelernt haben —, ist kürzlich in eine Art kosmischen Kaltraum eingeschlossen worden. Warum hat man das mit uns gemacht? Das wissen wir nicht genau. Wir glauben, es wurde bewirkt — und zwar bewusst bewirkt — von Wesen, die so mächtig und unzugänglich sind, dass man sie durchaus als Götter bezeichnen könnte. Und wenn wir die Götter verärgern, entziehen sie uns vielleicht den Schutzschild, und dann werden recht bald die Berge zu schmelzen und die Meere zu kochen anfangen. Aber glaubt nicht unseren Worten. Ignoriert den Sonnenuntergang und den Schnee, der im Winter auf die Berge fällt, wie eh und je. Wir haben Beweise. Wir haben Berechnungen, logische Schlussfolgerungen, Fotos, die von Maschinen aufgenommen wurden. Forensische Beweise höchsten Kalibers.« Jason legte die traurig fragende Variante seines Lächelns auf. »Und doch ist die Jury nicht überzeugt.«

Und es waren nicht nur die Unwissenden, die sich nicht überzeugen ließen. In diesem Moment beklagte sich im Radio der Vorstandsvorsitzende eines Versicherungskonzerns über die wirtschaftlichen Auswirkungen »dieses ständigen unkritischen Geredes über den sogenannten Spin«. Die Menschen fingen an, die Sache ernst zu nehmen, sagte er, und das sei schlecht fürs Geschäft. Es mache die Leute leichtsinnig. Es leiste der Unmoral, dem Verbrechen, dem Schuldenmachen Vorschub. Schlimmer noch, es verfälsche alle Versicherungsstatistiken. »Falls die Welt nicht in den nächsten dreißig oder vierzig Jahren untergeht«, sagte er, »könnten wir vor einer Katastrophe stehen.«

Wolken begannen von Westen her aufzuziehen. Eine Stunde später war der prachtvolle blaue Himmel vollständig bedeckt, und erste Regentropfen klatschten auf die Windschutzscheibe. Ich schaltete die Scheinwerfer an.

Im Radio war man von den Versicherungsstatistiken zum nächsten Thema übergangen. Ein Thema, das in letzter Zeit die Schlagzeilen beherrscht hatte: die Silberkästen, so groß wie eine ganze Stadt, die außerhalb der Spin-Barriere schwebten, hunderte von Kilometern über beiden Polen der Erde. Die in fester Position schwebten, nicht etwa in einer Umlaufbahn kreisten. Ein Objekt kann in einer festen Umlaufbahn über dem Äquator hängen — geosynchrone Satelliten hatten das früher getan —, aber den elementaren Bewegungsgesetzen zufolge gibt es nichts, das in einer festen Position über den Polen des Planeten »kreisen« könnte. Und trotzdem hingen dort diese Dinger, entdeckt von einer Radarsonde und kürzlich fotografiert während einer unbemannten Flyby-Mission — eine weitere Schicht im Rätselwerk des Spins, und ebenso unbegreiflich für die verwirrten Massen, zu denen in diesem Fall auch ich zählte. Ich wollte mit Jason darüber reden. Ich glaube, ich wollte, dass er mir das alles genau erklärte.

Es regnete in Strömen und Donner grummelte in den Hügeln, als ich endlich vor E. D. Lawtons Sommermietshaus in der Nähe von Stockbridge hielt, ein englisches Cottage im ländlichen Stil, die Außenverkleidung arsengrün gestrichen, gelegen in einem etwa hundert Morgen großen Stück geschützten Waldes. Es leuchtete in der Dämmerung wie eine Sturmlaterne. Jason war schon da, sein weißer Ferrari parkte unter einer Überdachung, von der es nur so heruntertropfte.

Er musste mein Auto gehört haben, denn die große Eingangstür ging auf, bevor ich klopfen konnte. »Tyler!«, rief er grinsend.

Ich trat ein und stellte meinen regenfeuchten Koffer auf dem Fliesenboden der Diele ab. »Lange nicht gesehen, Jase«.

Wir waren über E-Mail und Telefon in Verbindung geblieben, aber von einigen kurzen Feiertagsbesuchen im Großen Haus abgesehen, war dies das erste Mal seit acht Jahren, dass wir uns zusammen in einem Raum befanden. Vermutlich hatte die Zeit bei uns beiden ihre Spuren hinterlassen, eine unauffällige Bestandsaufnahme sollte das bestätigen. Ich hatte ganz vergessen, wie eindrucksvoll sein Äußeres war. Er war schon immer groß gewesen, stets entspannt in seinem Körper ruhend; das war immer noch so, obwohl er ein bisschen magerer als früher wirkte, nicht zerbrechlich, aber in einem zerbrechlichen Gleichgewicht, wie ein auf dem Kopfende stehender Besenstiel. Seine Haare bildeten ein gleichmäßiges Stoppelfeld von einem knappen Zentimeter Länge. Und obwohl er einen Ferrari fuhr, legte er nach wie vor keinen Wert auf einen wie auch immer gearteten persönlichen Sticlass="underline" er trug abgerissene Jeans, einen ausgebeulten, zerfransten Strickpullover und billige Halbschuhe.

»Hast du unterwegs gegessen?«, fragte er.